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Perspektiven des Bewusstseins bei Hegel

Hans-Georg Bensch: Perspektiven des Bewußtseins. Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes. Reihe: Contradicto. Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausgegeben von Günther Mensching. Band 5. Würzburg 2005. (Verlag Königshausen & Neumann, 29,80 €) 

Allgemeines zu Hegel und seinen Interpreten

 Hegel wurde bei den Philosophen oft als toter Hund angesehen, weil er angeblich widersprüchliches Denken gelehrt hätte. Das scheint sich allmählich zu ändern, wie die Fülle an Sekundärliteratur zeigt, die Hans-Georg Bensch verwenden kann. Der Autor kommt aus der Bulthaup-Mensching-Schule der Kritischen Theorie und legt mit dieser Arbeit eine Hegelinterpretation vor, die auf seiner Habilitationsschrift beruht.

 Wenn man die Hegelsche Philosophie einfach abtut als widersprüchliches Denken, dann weicht man den Problemen seines eigenen Denkens aus und erhöht dadurch drastisch die Verfallszeit seiner Konstruktionen, die vorgeben etwas Neues abgeliefert zu haben. Für ein Philosophiestudium ist deshalb die Beschäftigung mit Hegel unerlässlich. Die Interpretation der ersten drei Kapitel der „Phänomenologie des Geistes“ ist beim Durchdenken Hegelscher Theoreme und Argumentationen eine wertvolle Hilfestellung, zumal Bensch Schrift durch großes philosophisches Wissen geprägt ist, die Theorievoraussetzungen von Platon bis Schelling  einbezieht, die in Hegels Text eingehen, und vor allem den Gang der Hegelschen Argumentation immanent und problemorientiert reflektiert. Es geht Bensch um die Sache, nicht um bloß Historisches, schon gar nicht um Einordnungen in vorgefasste philosophiegeschichtliche Schablonen.

 Allerdings ist der Hegelsche Text nicht einfach zu verstehen, obwohl Hegel ihn auch als „Leiter“ in die Philosophie verstanden haben will. Das zeigt sich an den Schwächen, Einseitigkeiten und Fehlern vieler Interpreten, die Bensch heranzieht. Wer von seiner Interpretation Hegels, den ersten Kapiteln der Phänomenologie,  profitieren will, sollte den Hegelschen Text zunächst einmal studiert haben, besser noch das ganze Werk. An Beispielen, Analogien und Erläuterungen geht Bensch mal mehr mal weniger intensiv auf Verständnisschwierigkeiten ein. Dennoch ist sein Buch keine Einführung in Hegeltexte, sondern eine wissenschaftliche Arbeit, die den Forschungsstand zu dem Thema verarbeitet und ihn weiter entwickelt hat.

 Obwohl in der letzten Zeit das Interesse an Hegels Philosophie wieder gewachsen ist, leidet die Hegelforschung an einem Dilemma. Entweder wird Hegel von einer Philosophiehistorie betrachtet, die ihren Gegenstand historisiert, in seine Zeit einbettet und verflüchtigt, Objektivität nur bei der akribischen Textarbeit verlangt, ansonsten aber den Gegenstand des Hegelschen Denkens ohne ausreichendes Bewusstsein seiner Probleme wiedergibt, oder es werden in einer bloß systematischen Behandlung die historischen Probleme ausgeblendet bzw. man tut ihn gar als Irrationalisten ab. Dagegen will Bensch den Versuch unternehmen, „den Gegenstand selbst, den Gegenstand, den Hegel sich zum Gegenstand gemacht hat, sich zum Gegenstand zu machen. Dieser Anspruch muß formuliert werden, wenn an einem Begriff von Philosophie festgehalten werden soll, der sich einer unreflektierten Spaltung der Philosophie – hier strenge, auf ‚Wissenschaftlichkeit’ pochende systematische antimetaphysische Philosophie, dort bloße Philosophiegeschichte – entgegenstellt.“ (S. 11). Schon die einfache Frage, in welches Bewusstsein die Spaltung fällt, zeigt ihre Haltlosigkeit: Entweder spaltet sich das Bewusstsein auf bis zum Widerspruch, oder es denkt Historisches und Systematisches zusammen. Nur letzteres kann philosophischen Ansprüchen genügen.

 Mit diesem Anspruch werden die Kapitel „Die sinnliche Gewißheit oder das Diese und das Meinen“, „Die Wahrnehmung oder das Ding und die Täuschung“ und schließlich das Kapitel „Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt“ detailliert interpretiert. (Ich zitiere die Überschriften hier nach der Suhrkamp Werkausgabe, bei Bensch wird nach der kritischen Ausgabe zitiert und auch die Varianten besprochen, die auf Änderungen Hegels beruhen.) Allerdings ist die Detailinterpretation keine, die Satz für Satz vorgeht, sondern Bensch packt die entscheidenden Probleme an, die im Text von Hegel Thema sind, dann wird allerdings auch teilweise Satz für Satz interpretiert.

 Bevor Bensch aber diese Kapitel detailliert interpretiert, hat er ein Kapitel: „Systematische und historische Voraussetzungen der Phänomenologie des Geistes“, vorangeschickt. Dies ist notwendig, um Hegels Problematik verstehen zu können. Denn vor allem Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und deren Kritik durch Fichte in seiner „Wissenschaftslehre“ sowie die Kritik des Kant-Textes (einschließlich der "Kritik der Urteilskraft") durch Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ sind Voraussetzungen der Problemstellung und  -lösung durch Hegel. Hinzu kommt noch die skeptische Kritik an der Transzendentalphilosophie durch die „Popularphilosophen“ Jacobi und Schulze.

 Wenn Vorreden das Missliche an sich haben, einen Begriff von der Sache zu liefern, den doch erst der Gang der Argumentation im Hauptteil begründen kann, dann gilt dies auch für Rezensionen. Ich werde deshalb aus seiner Fülle von Interpretationen nur einige Probleme exemplarisch herausgreifen, um den Leser einen ersten Eindruck des Werkes von Bensch zu vermitteln.

 Die Detailuntersuchung der drei Kapitel bezweckt nach Bensch Folgendes: Sie „soll zur Beantwortung der Frage, ob die philosophische Reflexion nach Hegel tatsächlich fortgeschritten ist, oder alte Probleme – vielleicht bereits gelöste Probleme – in neuer Terminologie aufbereitet werden, Voraussetzungen liefern.“ (S. 85)  

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Über den Anfang der Philosophie und das unmittelbare Wissen

 Da ist zunächst das Problem des Angangs der „Phänomenologie“, das zugleich ein Problem des Anfangs der Philosophie überhaupt ist. Die Kantische Forderung, dass Philosophie wissenschaftlich sein soll, erzwingt, dass sie als philosophisches System ausgeführt werden muss. Ein philosophisches System kann aber keine Voraussetzungen bei anderen Wissenschaften machen, weil diese immer nur einen partiellen Gegenstand der Wirklichkeit reflektieren. Die Philosophie aber, welche die Totalität als „Natur und Freiheit“ (Kant) zum Gegenstand hat, muss deshalb einen „absoluten Anfang“ besitzen (S. 16). Jede Erkenntnis des Empirischen muss sich über das Empirische erheben, um es zu fassen, weil es sonst bestenfalls Erlebnisse wiedergeben oder Protokollsätze aufstellen könnte. Doch selbst in Erlebnissen und Protokollsätzen ist schon mehr vorhanden als dargestellt wird  in Form des beschreibenden Subjekts. Dieses Mehr kann selbst nicht etwas Empirisches sein.

Bei Fichte ist es das „absolute Ich“ und bei Schelling die „intellektuelle Anschauung“. Das absolute Ich bei Fichte wird nur behauptet und die intellektuelle Anschauung ist nur eingeweihten Genies zugänglich. Da Hegel aber den Anspruch hat, allgemein gültige und deshalb auch allen begreifbare Begründungen zu liefern, kann er diese Anfänge nicht akzeptieren.

 Da weder Fichte noch Schelling einen absoluten Anfang überzeugend aufgestellt haben, werden ihre Entwürfe von Hegel kritisiert. Aber als Gegenstand der Kritik sind sie Voraussetzungen des Hegelschen absoluten Anfangs in der Philosophie. Bensch fragt nun: „Wie kann solch ein System einen absoluten Anfang haben, wenn es diese historischen Voraussetzungen hat?“ (S. 16) Die Lösung dieses Problems gibt Bensch am Anfang als terminus ad quem seiner Interpretation vor, nämlich, „daß der Anfang der Wissenschaft weder unmittelbar noch vermittelt und sowohl vermittelt als auch unmittelbar zu sein hat. Diese rätselhaft in sich gedoppelte Bestimmung behält Hegel von der Phänomenologie des Geistes über die Wissenschaft der Logik bis zur Enzyklopädie bei.“ (S. 16)  Begründet wird diese Lösung des Problems in der Detailinterpretation des Anfangs der „Phänomenologie“. Ihr Anfang ist das unmittelbare Wissen, dass etwas außer dem erkennenden Ich sei, das Ich von diesem unmittelbaren Wissen unterschieden sei. Es ist der Anfang von Descartes, eines Anfangs, dessen Reflexion die Philosophie zusammenfassend, wenn auch nicht chronologisch, von Descartes bis Jacobi einbezieht. Konkret schreibt Bensch: „Der Gegenstand, dessen begriffliche Entwicklung dargestellt werden soll, ist das Wissen. Ist das Wissen Gegenstand und hat der Anfang der Darstellung dieses Gegenstandes ein absoluter zu sein, dann ist und kann das Wissen, das unser Gegenstand ist  ‚kein anderes seyn, als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seyenden ist’“ (S. 28). Oder in anderer Formulierung: „Daß das unmittelbare Wissen zuerst Gegenstand der Untersuchung ist, hat seinen Grund darin, daß jedes andere Wissen, ein nicht unmittelbares, mithin vermitteltes Wissen wäre, mit dem dann der Anfang willkürlich sein würde. Es wäre eines, das als vermitteltes Voraussetzungen hätte, die gerechtfertigt werden müßten.“ (S. 92)

 Damit der Leser Hegels die Beschränktheit dieses ursprünglichen Ichs erkennen kann, wird der Gang der Reflexion durch das Wir begleitet, welches das absolute Wissen darstellt, das zugleich Ziel der Argumentation der gesamten „Phänomenologie“ ist. Im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Wissen geht Bensch auf den ontologischen Gottesbeweis ein, den Hegel zwar nicht führe, aber mit seiner Konstruktion intendiere. Gemeint ist damit nicht ein tatsächlicher Gottesbeweis, sonder die logische Form des Gottesbeweises. „Mit dem ontologischen Gottesbeweis erweist sich der menschliche Geist des Absoluten mächtig.“ (S.46) Er konnte deshalb auch erst im Mittelalter aufgestellt werden, weil erst in dieser Zeit sich die menschliche Subjektivität, bedingt durch das Christentum, allmählich ihrer Leistung bewusst wurde. „Der ontologische Gottesbeweis hat die nominalistische Kritik am Universalienrealismus zur Voraussetzung, denn mit der nominalistischen Kritik am Universalienrealismus ist der Unterschied von Begriff und Gegenstand explizit zugestanden. (...) Erst wenn Subjektivität sich ihrer Produktivität bewußt wird, und zwar nicht allein ihrer theoretischen sondern ebenso ihrer praktischen Produktivität sich bewußt wird, ergibt sich die Nötigung, sich des Materials, an dem die Produktivität sich betätigt, zu versichern, entweder über die Behauptung eines intuitiven Wissens – ‚es ist’ – oder über die Figur des ontologischen Gottesbeweises. In Bezug auf die praktische Produktivität der Subjektivität heißt die Nötigung, sich eines Fundaments zu versichern, das Setzen des Eigentums, die ursprüngliche Besitznahme, die ursprüngliche Akkumulation, in deren Ergebnis das arechtliche In-Besitzgenommene verrechtlich worden ist.“ (S. 48 f) 

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 Wieso der ontologische Gottesbeweis zur Voraussetzung des Kapitels „Die sinnliche Gewißheit und das Dieses und das Meinen“ gehört, ist zunächst nicht einsichtig. Das „Wissen des Unmittelbaren oder Seienden“ ist nur scheinbar „die reichste Erkenntnis“, diese geht aber der „Wahrheit der sinnlichen Gewißheit nichts an“ (Hegel: Phänomenologie, Suhrkampausgabe, S. 82 f.). Was für Bestimmungen zunächst vorhanden sind, sind nur das Hier und das Jetzt und ein Ich, das diese denkt. Der ontologische Gottesbeweis dagegen hat es mit dem Begriff des Begriffs und dem Sein zu tun, der Differenz und Einheit von Denken und Sein in ihrer Totalität. Bensch weist selbst auf die flapsige Kritik Kants mit seinem 100-Taler-Beispiel hin (S. 41, Anm. 135). Denn dieses Beispiel hat es mit sinnlichen Dingen zu tun, während es im ontologischen Gottesbeweis um Totalitätsbegriffe geht: Gott, Sein, Denken. Die Figur des ontologischen Gottesbeweises wäre dann eine Voraussetzung des absoluten Wissens, also des Endes der „Phänomenologie“. 

 Im Kapitel „Kraft und Verstand“ greift Bensch allerdings noch einmal das „Realismusproblem“ auf, zu dem auch die Problematik des ontologischen Gottesbeweises gehört.  Er behauptet dort: Die Sache selbst „hat sich erwiesen als in sich unterschieden und in sich unterscheidend. Nur so ist rückblickend deutlich, daß ‚Sache’ schon am Beginn das noch völlig unbestimmte Absolute war, unter dessen Voraussetzung allein das ‚Realismusproblem’ am Ende der ‚sinnlichen Gewißheit’ aber implizit im gesamten Bewußtseinsabschnitt thematisiert werden konnte. Allein diese Bedeutung von ‚Sache’ rechtfertigt noch einmal die ausführliche Interpretation des unmittelbaren Wissens im ersten Satz der „Sinnlichen Gewißheit“ anhand von Wahrheitsbegriff und ontologischem Gottesbeweis, in der sich das sogenannte ‚Realitätsproblem’ spiegelt.“ (S. 175 f.) 

Die Wahrnehmung

 Die Wahrnehmung, das Resultat des Kapitels über die sinnliche Gewißheit, erweist sich als widersprüchlich. „Jede vom aufnehmenden Ich vorgenommene Korrektur, die so das aufnehmende Ich immer mehr zu einem tätigen Ich macht, erweist sich für es wieder als nicht richtig. Weder ist der Gegenstand rein Einer, wenn es Eigenschaften an ihm gibt, die allgemein sind, noch ist der Gegenstand eine Gemeinschaft überhaupt von vielen Eigenschaften, die alle allgemein sind. Denn wenn die Eigenschaften bestimmte sind, sind sie anderes ausschließend, d.h. der Gegenstand kann auch keine Gemeinschaft im Sinne einer Kontinuität sein.“ (S. 113)  Und so weiter. Wenn nun das Bewusstsein seine Auffassung vom Wahren des  Wahrnehmens immer wieder korrigiert und immer mehr zu einem Tätigen wird, dann fällt die Wahrheit des Wahrnehmens in das Bewusstsein. An dieser Stelle der Argumentation Hegels ist das Bewusstsein nicht mehr nur das Unmittelbare wie in der sinnlichen Gewissheit, sondern indem es immer wieder in die bloße sinnliche Gewissheit zurückfällt, weiß es dies auch, sein Meinen ist Resultat. Dadurch macht das Bewusstsein einen Schritt zum Selbstbewusstsein. „Es ist sich seiner Reflexion in sich bewußt und versucht, im Bewußtsein des eigenen Unterschieds von Auffassen und Reflexion, sich erneut das Wahre zu nehmen.“ (S. 114)

 Bensch kritisiert nun an Hegel nicht so sehr den Gang der Argumentation, dieser ist nachvollziehbar, auch wenn es in der Sekundärliteratur darüber Fehldeutungen gibt. Was Bensch kritisiert, ist die von Hegel behauptet Notwendigkeit der Entwicklung seiner Gedanken. Er macht dies z.B. an Hegels Kriterium der Wahrheit des Wahrnehmens fest. „Die Hegelsche Darstellung erweckt den Anschein einer immanenten Entwicklung von dem ‚wirklichen Wahrnehmen’ hin zu einer Theorie des Wahrnehmens. Einerseits konnte eine Entwicklung innerhalb des ‚wirklichen Wahrnehmen(s)’ nur dargestellt werden unter der Voraussetzung der Sichselbstgleichheit als Kriterium der Wahrheit. Dieses Kriterium der Wahrheit gehörte aber mit zu den Bestimmungen, die „wir“ vor dem „wirklichen Wahrnehmen“ genannt haben (S. 115 f.). Wenn aber beim Wahrnehmen, dem "wir" zunächst nur zusehen sollen, die Reflexivität des Bewusstseins unterstellt ist, dann ist der behauptete notwendige Gang der Argumentation nicht mehr zwingend, also nicht notwendig. Die behauptete Notwendigkeit der Argumentation beruht auf einer Erschleichung.

 Diese Problematik zeigt sich heute im Verhältnis von Wissenschaft und ihrem Selbstbewusstsein. Wenn dieser Entwicklung von der sinnlichen Gewissheit über die Wahrnehmung und den Verstand zum Selbstbewusstsein nicht zwingend ist, sondern, wie Bensch sagt, den Willen des Denkers voraussetzt, dann kann Wissenschaft betrieben werden, ohne ein Selbstbewusstsein von der eigenen Wissenschaft zu haben. Ein Wissenschaftler kann heute in den Naturwissenschaften durchaus verwertbare Forschungsergebnisse erzielen und ansonsten annehmen, seine Resultate wären nur Modelle, oder er kann an Gott glauben oder als Biologe das Erbgut von Lebewesen studieren und an die Wiedergeburt als Tier glauben. Verlässt er jedoch sein eng umrissenes Spezialgebiet und macht Aussagen über die Totalität oder über die Konsequenzen seiner Resultate in der Gesellschaft, dann sind diese in aller Regel falsch oder bestenfalls zufällig wahr. Bensch demonstriert das u.a. an der Hirnforschung. „Ganz gleich, was Evolutionsbiologen oder in der Gentechnik engagierte Biomechaniker oder neurophysiologisch interessierte KI-Forscher herausbringen werden, die auch für diese Forschung vorausgesetzte Freiheit kann unmöglich im Resultat der Forschung bestritten sein. Die in diesem Zusammenhang sich geltendmachende Freiheit hat darüber hinaus die Seite, nicht allein Zwecke setzen zu können. Sie muß auch gedacht werden können als Zwecke beurteilend.“ (S. 137)  Damit aber ist der Unterschied zwischen den Wissenschaften und ihrer gesellschaftlichen Funktion bzw. der Beurteilung dieser Funktion thematisiert.  

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Kraft und Verstand

 In dem Kapitel „Kraft und Verstand“ ist ein Bewusstsein Gegenstand, dem weder das „sinnliche Dieses“ noch das „Ding von vielen Eigenschaften“ das Wahre ist. Beide Stufen des Bewusstseins waren an sich selbst widersprechend, so dass erst ein Bewusstsein, das das „Innere der Dinge“ erfasst, ihr Wesen, ihre Gesetzmäßigkeit als das Wahre erkennen kann. Aber als Inneres ist es nicht sinnlich oder wahrnehmbar, sondern im Verstand, weil das sinnliche und wahrnehmende Ich sich zum Verstand fortbestimmt hat. Ein Verstand, der die letzte Gestalt des Bewusstsein ist, bevor auch er über die Widersprüchlichkeit zum Selbstbewusstsein und dann zum Geist (das Ich, das zum Wir wird) fortentwickelt wird.

 Als Verstand (und als Kraft, d.h. als bestimmende und reflektierende Urteilskraft), der das Innere der Dinge denkt, kann er seine Bestimmungen nur festhalten als Prozess. Dieser aber lässt sich nur widersprüchlich denken, weshalb Hegel fordert, den Widerspruch zu denken! (Vgl. S. 166)  Die Momente des Gesetzes der Erscheinungen sind in Hegelscher Terminologie „ein sich selbstgleiches, welches aber der Unterschied an sich ist; oder es ist gleichnamiges, welches sich von sich selbst abstößt, oder sich entzweit“ (S. 136).  Dabei entwickelt Hegel aus dem Gesetz der Erscheinung den allgemeinen Begriff des Gesetzes und schließlich die Gesetzmäßigkeit überhaupt.

 „Das Reich der Gesetze ist das gegenwärtige beständige Abbild der unsteten Erscheinung, das Jenseits der wahrgenommenen Welt. Kein Gesetz füllt aber die Erscheinung ganz aus. Keines ist die ganze Gegenwart. Die Erscheinung ist noch nicht als aufgehobenes Für-sich-Sein gesetzt. Ein Gesetz – mit diesem Mangel – ist noch nicht das Gesetz. Sind aber unbestimmt viele Gesetze, ist dem Prinzip des Verstandes widersprochen. Dem Bewußtsein sollte das einfache Innere, die an sich allgemeine Einheit, das Wahre sein. Die vielen Gesetze muß der Verstand dann in ein Gesetz zusammenfallen lassen. Fallen viele Gesetze ineinander, verlieren die Gesetze ihre Bestimmtheit. Damit kommt es nur zur abstrakten Einheit der bestimmten Gesetze. Als Vereinigung aller Gesetze ‚in der allgemeinen Attraction’ ist kein Inhalt mehr ausgedrückt, sonder nur der ‚Begriff des Gesetzes’, ‚der darin als seyend gesetzt ist.’“ (S. 141)

 In diesem Zusammenhang geht Bensch in einem langen Exkurs in die Philosophiegeschichte (S. 155 ff.) auf den Begriff des ‚Gleichnamigen’ (Homonymos, Synonymos, Univoke, Äquivokation) ein. Das Gleichnamige enthält das Problem, wie das Einzelne mit dem Allgemeinen vermittelt ist. Schon bei Aristoteles war das Gleichnamige (der Gattungsbegriff, der auch für die Arten gilt) deshalb als Form bestimmt. Dieser Tisch vor mir kann nur ausgedrückt werden durch den Allgemeinbegriff ‚Tisch’. Bensch schreibt dazu:

 „Die Substanzialität des Allgemeinen muß angenommen werden und kann zugleich nicht begründet werden. (...) Der scheinbare Ausweg, nach dem alle Allgemeinheit der Begriffe nur konventionell sei, alle Begriffe nur in der Funktion von Ordnungsbegriffen gelten, ist eine einseitige Konsequenz des Nominalismus, mit dem ein Wissenschaftsbegriff, der etwas an den Sachen trifft, unmöglich gemacht wird und dann innerhalb der Spielarten des Nominalismus ein Realismusproblem generiert.“ (S. 167)

Weiter zeigt sich schon bei Aristoteles, dass die erste Natur nur begriffen werden kann mit Bestimmungen, die wir bei Gegenständen der zweiten Natur gewonnen haben, weil wir diese selbst erzeugen. Da zu deren Bestimmung auch Begriffe gehören,  die nicht aus Natur oder Naturprodukten gewonnen wurden, wie die Gattungsbegriffe, dann setzt das Bewusstsein in gewissen Sinn seine Gegenstände. „Wenn aber zur Bestimmung der Gegenstände der ersten Natur Gegenstände bestimmt werden müssen, die nicht aus Natur – als erster Gestalt der zweiten Natur – entstanden sind, dann wäre – so kann Hegel zu recht schließen – der Begriff der ersten Natur selbst Resultat des Tuns der Seele, des Bewußtseins. Für Hegel ist dieser Begriff der ersten Natur als Resultat des Tuns der Seele damit zugleich die Wirklichkeit der ersten Natur, denn erst als Resultat der Realisation der Freiheit ist erste Natur für das Bewußtsein wirklich. Jenseits dieser Bestimmbarkeit kann es nach Hegel keine Bestimmtheit geben.“ (S. 169)

 Gegen diese Konsequenz beharrt Aristoteles auf der „Bestimmtheit des Materials, die jeder (subjektiven) Bestimmung vorausgeht“ (S. 169). Auch Hegel gesteht dies z.T. zu, wenn er in der „Phänomenologie“ sagt: „Selbst in ihrer höchsten Gestalt, in der organischen Natur (...) gibt es nur ‚Spuren von Notwendigkeit, Anspielungen auf Ordnung und Reihung, witzige und scheinbare Beziehung’, höchstens ein freundliches Entgegenkommen; Ähnlichkeiten mag es geben, zu einer vollständigen Gliederung gelangt sie nicht.“ (S. 181)

 Daran kritisiert Bensch, dass diese zugestandene Selbstständigkeit der ersten Natur gegenüber ihrer wissenschaftlichen Konstruktion der Hegelschen Philosophie als nichtig, vernachlässigbar abgewertet wird. „Gegen diese Konsequenz erstehen Kant und Fichte erneut.“ (S. 182)  Die Begrenztheit, welche die Sätze der Einzelwissenschaft als „partielle Totalitäten“ haben „und die dem Begriff des EINEN Systems nicht genügt, muß transzendiert sein. Und sie ist auch transzendiert in der historisch hervorgebrachten Kooperation und Teilung der gesellschaftlichen Arbeit mit ihren auf einzelwissenschaftlicher Grundlage reproduzierbaren industriellen Verfahren. Die Resultate dieser gesellschaftlichen Arbeit sind selbst Voraussetzung weiterer einzelwissenschaftlicher Forschung. Diese Seite, die eher aus Kant und Fichte zu extrapolieren ist, ohne bei einer Schellingschen Naturphilosophie zu landen, fehlt bei Hegel. Er betont in der Phänomenologie des Geistes die Seite der Totalität, die nicht partikular ist, sie wird von ihm zum Geist hypostasiert. Der Preis, den Hegel dafür zu entrichten hat, ist, daß er Wahrheit im Begriff, in der Idee, in der Philosophie und bloße Richtigkeit in den Einzelwissenschaften, die es nie zum Begriff bringen, unterscheiden muß. (...) Was jene Totalität in Wahrheit ist, dafür fehlt Hegel der Begriff.“ (S. 183)

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Fazit

 Nach Bensch ist sein Ergebnis der Interpretation „irritierend“. Weder lasse sich dieser Abschnitt der „Phänomenologie des Geistes“ als eine Art Philosophiegeschichte lesen noch lasse sich eine Stringenz der Argumentation mit Bestimmungen der „Wissenschaft der Logik“ erreichen, obwohl die „Phänomenologie“ im Resultat als Voraussetzung der Logik gelte. Weder ist es möglich, dem Text immanent zu folgen, weil Hegel nicht nur mit „dem Gleichnamigen“, sondern ebenso mit Gleichnamigem, mit Äquivokationen, argumentiert. Immer wieder benutzt er Alternativformulierungen, die bei gutwilliger Interpretation für Gleichbedeutendes stehen, von Hegel aber sogleich nach der Seite des Bedeutungsunterschiedes benutzt werden.“ (S. 178)

 Dennoch komme auch keine ernsthafte Philosophie um die Hegelsche Argumentation herum: der Bewusstseinsabschnitt ist für Hegel eine Theorie der Wahrnehmung, die begriffliche Bestimmung von Gesetzmäßigkeiten und eine „Metakritik der Erkenntnistheorie“ (S. 178).  Deshalb kann man nur „mit und gegen Hegel“ (S. 137 f.) heute Wissenschaftstheorie und Philosophie betreiben und ein gesellschaftliches Selbstbewusstsein sich aneignen. „Die Trennung von Wissenschaft (Methode) und Wirklichkeit (Gegenstand) ist das wirkungsvolle Resultat H. Rickerts und seiner neukantianischen Nachfolger. Unter dieser Trennung werden Begriffe dann zu bloßen Ordnungsbegriffen. Sind aber Begriffe nach willkürlichen, (denk-) ökonomischen, pragmatischen, konventionellen Kriterien allein als Ordnungsbegriffe anerkannt, weil die ontologische Fundierung nicht letztbegründet werden kann, dann fällt auch der Unterschied von Gegenständen der ersten Natur und solchen der zweiter Natur.“ (S. 178 f.) 

 Dagegen kann man vom Deutschen Idealismus lernen, dass Theorien nicht nur Modelle sind, sondern als ontologisch fundierte gedacht werden müssen, ohne deshalb eine positive Ontologie entwickeln zu müssen. Gegen den heute zum Vorurteil verfestigten Nominalismus, der Theorien als bloße Modelle sieht, kann man mit Fichte und Hegel fragen: „In welches Bewußtsein fällt denn die Feststellung der Differenz von theoretischem Modell und Wirklichkeit? – Sie fällt in ein Bewußtsein, das damit die behauptete Trennung bereits widerlegt hat. Würde solch ein Bewußtsein sich der eigenen Widerlegung bewußt, müßte es den Weg von Descartes über die Widerlegung des Solipsismus bis zum deutschen Idealismus erneut beschreiten“ (S. 179).

 Diesen perennierenden Wiederholzwang in immer neuen Begriffsabreviaturen kann nur ein gründliches Studium der neuzeitlichen Philosophie abhelfen, deren Höhepunkt die Hegelsche ist.

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Stand: 07. Juni 2006