SokratesPlatonAristotelesEpikurHeloise und AbaelardSpinozaLockeKantFichteHegelMarxAdornoMarcuseBloch

            Methodenlehre     

 

 

Home Nach oben

Aphorismen Wertphilosophie Rezensionen Glossar Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                                                    

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Home Nach oben

 

 

9.  Philosophie als Methodenlehre

 Die Rickertsche Befangenheit in der Hermetik des Subjekts erzwingt eine apriorische Wertlehre, deren Geltung transzendental erschlossen ist, um überhaupt sachhaltige Erkenntnisse zu objektivieren. Da diese Begründung der Wertlehre zirkulär ist und deshalb ein willkürliches Moment enthält, wird das Fundament der Wertphilosophie  irrational.  

In der weiteren Reflexion der Wertbegründung muss ich zunächst von dieser nicht schlüssigen Wertbegründung ausgehen, um Rickerts Methodenlehre immanent erörtern zu können. Denn diese Methodenlehre ist eine Voraussetzung meines Hauptgegenstandes: die Wertphilosophie als Ganzer.

 Wertphilosophie und Wissenschaftstheorie als Erkenntnistheorie und daraus folgender  Methodenlehre bedingen einander. Rickert unterscheidet die Gesamtheit der Wissenschaften in Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften, ohne allerdings ein vollständiges System der Wissenschaften geben zu wollen. Denn dieses ist nach dem hiatus irrationalis  zwischen Bewusstsein und extramentaler Realität und dem angenommenen „irrationalen Rest“ in der unendlichen Mannigfaltigkeit des Bewusstseins nicht möglich. Ein Titel seiner Bücher bringt diesen Unterschied zum Ausdruck: In „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“ (zuerst 1910) und bereits in seiner Schrift „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ von 1902 versucht er den Kulturwissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft, einen eigenständigen Gegenstand gegen die alles dominierenden Naturwissenschaften seiner Zeit zu sichern.

 Natur ist nach Rickert „der Inbegriff des von selbst Entstandenen“. „Ihr steht die Kultur als das von einem nach wertenden Zwecken handelnden Menschen entweder direkt Hervorgebrachte oder, wenn es schon vorhanden ist, so doch wenigstens um der daran haftenden Werte willen absichtlich Gepflegte gegenüber.“ (Kulturwissenschaft, S. 19 f.)  Natur ist durch Gesetze bestimmt, Kultur dagegen setzt den Willen und eine gewisse Freiheit des Menschen voraus. Zur Kultur gehören durch Arbeit geförderte Naturprodukte ebenso wie Maschinen, der kultivierte Boden, Staaten, politische Gesetze und Sprache, aber auch Kriege, unabhängig davon, ob man diese Kulturphänomene positiv oder negativ wertet. 

Zurück zum Anfang des Kapitels

 Die Naturwissenschaften sind nach Rickert durch die generalisierende Methode gekennzeichnet, Kulturwissenschaften durch die individualisierende Methode. Für Rickert ist die Methode ein abstraktes wissenschaftliches Verfahren, das an die Gegenstände des Denkens herangetragen wird. Zunächst an die „anschauliche Mannigfaltigkeit der Körperwelt“, indem die naturwissenschaftliche Methode das Gemeinsame der Gegenstände herausfindet und von den individuellen Unterschieden abstrahiert. Die Ergebnisse des „empirischen“ Begriffs werden wieder Gegenstand einer höheren Generalisierung. Sodann erschließt sie an „empirischen“ Begriffen der Natur deren allgemeine Gesetzmäßigkeit. Die Naturwissenschaften „sehen in ihren Objekten ein von jeder Wertbeziehung freies Sein und Geschehen, und ihr Interesse ist darauf gerichtet, die allgemeinen begrifflichen Verhältnisse, wenn möglich die Gesetze kennen zu lernen, welche für dieses Sein und Geschehen gelten. Das Besondere ist für sie nur ‚Exemplar’.“ (Kulturwissenschaft, S. 109)  Entsprechen versuchen sie ihren Gegenstand zu erklären, d.h. sein Allgemeines und seine Gesetze zu bestimmen.

 Die sachlich „wertfreien“ Naturwissenschaften unterliegen dennoch einem Wertebezug und unserer Beurteilung, deren leitender theoretischer Wert hierfür die Wahrheit ist. Der Wert „Wahrheit“ ist nach Rickert quasi die außernaturwissenschaftliche Bedingung der Möglichkeit, zu generalisierenden Resultaten der Naturwissenschaften zu kommen, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen und dadurch zur Beherrschung von Naturphänomenen dienen können. Was allerdings der theoretische Wert „Wahrheit“ der Sachererkenntnis hinzufügt, ist nicht einzusehen, zumal die Wahrheit naturwissenschaftlicher Sätze in dieser Wissenschaft immanent begründet werden, unabhängig davon, ob ein Wertphilosoph ihnen von außen nun den Wahrheitswert zuspricht oder nicht. Richtig an Rickerts Subjektbezug ist, dass Naturgesetze nicht einfach da sind, sondern auf das erkennende Subjekt und sein allgemeines Interesse an der Beherrschung der Natur hin konstruiert sind. Das Falsche an Rickerts Ansicht ist, dass er dieses Interesse als „Wert“ bestimmt und deshalb jeden ontologischen Bezug der Naturgesetze ausblendet.

 Die Grenzen dieser naturwissenschaftlichen Methode liegen nach Rickert angeblich in der unzureichenden Erfassung der Einzeldinge, die Allgemeinbegriffe der „naturwissenschaftlichen Methode“ kämen nicht an die Einzeldinge als Gegenstand heran. Die Einseitigkeit des Verfahrens der Naturwissenschaften soll zum Bewusstsein bringen, dass die Dinge, die in Raum und Zeit sind, eine andere Methode verlangen. Dies soll die individualisierende Methode der Geschichts- bzw., im weiteren Umfang, der Kulturwissenschaft leisten. Gegen das vorherrschende naturwissenschaftliche Bewusstsein seiner Zeit trägt Rickert bittweise vor, dass die Geschichte auch einen eigenständigen Gegenstand habe: Sie allein könne „die Lücke ausfüllen, die die Naturwissenschaft für immer in unserem Wissen von der empirischen Wirklichkeit lassen muss.“ (Rickert: Begriffsbildung, S. 271)  Die Kulturwissenschaft sucht in der unendlichen Mannigfaltigkeit das Individuelle, indem sie von dem Gemeinsamkeiten der Gegenstände abstrahiert und das Individuelle hervorhebt. Das allerdings geht auch nur mit Begriffen, d.h. allgemeinen Bestimmungen.

Zurück zum Anfang des Kapitels

 „Das Problem der historischen Begriffsbildung besteht demnach darin, ob eine wissenschaftliche Bearbeitung und Vereinfachung der anschaulichen Wirklichkeit möglich ist, ohne daß in ihr, wie in den Begriffen der Naturwissenschaft, zugleich auch die Individualität verloren geht, und trotzdem nicht nur eine bloße ‚Beschreibung’ von Tatsachen entsteht, die sich als wissenschaftliche Darstellung noch nicht ansehen läßt. Das heißt, wir müssen jetzt fragen, ob aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des anschaulichen Inhaltes der Wirklichkeit bestimmte Bestandteile so herausgehoben und zu wissenschaftlichen Begriffen so zusammengeschlossen werden können, daß sie nicht das einer Mehrheit von Dingen und Vorgängen Gemeinsame sondern das nur an einem Individuum Vorhandene darstellen.“ (Rickert: Begriffsbildung, S. 300 f.)  Mit dem „Individuellen“ ist nicht nur eine Person, sondern z.B. auch eine historische Epoche usw. gemeint. Da das Individuelle eine für uns unendliche Mannigfaltigkeit darstellt, bedarf die historische Methode der Auswahlkriterien, welche individuellen Gestalten es wert sind, in der Historiografie dargestellt zu werden. Diese Funktion des Auswahlkriteriums sollen die Werte übernehmen, sie sollen eine „unübersehbare Heterogenität in ein übersehbares Diskretum“ (Kulturwissenschaft, S. 78)  verwandeln. Soll diese Geschichtskonstruktion nicht bloß willkürlich sein, muss der Historiker die wesentliche historische Individualität „von der unwesentlichen Andersartigkeit“ (a.a.O., S. 92) scheiden. Entsprechend muss er solche Individualitäten verstehen, d.h. sich in sie einfühlen können. Das „leitende Prinzip der Auswahl“ sind die in der Epoche vorherrschenden Kulturwerte. Insofern die leitenden Kulturwerte einer Epoche faktisch konstatierbar sind, ist auch die Kulturwissenschaft als Wissenschaft wertfrei und liefert objektiv geltende Resultate. (In diesem Gedanken ist Max Webers Forschungsprogramm fundiert!)

 Dennoch muss der Kulturwissenschaftler die historisch leitenden Werte selbst bewerten, wie ja bereits die Auswahl eines Gegenstandes aus der Geschichte eine gewisse Wertung darstellt. Wir werden aber nur dann eine Wirklichkeit individuell darstellen, „wenn uns das betreffende Objekt in irgend einer Weise ‚interessant’ oder ‚wichtig’ ist, und das bedeutet, daß es zu Werten in Beziehung steht, die von uns gewertet werden.“ (Kulturwissenschaft, S. 144 f.)  Wird eine epochenübergreifende Geschichte, gar eine Universalgeschichte dargestellt, ist dies nur möglich mittels einer Geschichtsphilosophie, die absolute Werte des Historikers enthält, um eine universalhistorische Auswahl des Wesentlichen zu treffen. „Wer Kulturwissenschaft treiben will im höchsten Sinne des Wortes, so daß er die Auswahl des Wesentlichen als schlechthin gültig zu rechtfertigen unternimmt,  wird auf die Notwendigkeit geführt, sich auf seine leitenden Kulturwerte zu besinnen und sie zu begründen. Das Arbeiten mit unbegründeten Wertsetzungen würde in der Tat der Wissenschaft widersprechen.“ (Kulturwissenschaft, S. 158)  Diese Aufgabe der Wertung der Werte setzt absolute Werte voraus, deren Begründung aber nicht mehr zur Wissenschaft des Historikers gehört, sondern in die Geschichtsphilosophie bzw. Wertphilosophie fällt.

Zurück zum Anfang des Kapitels

Kritik der Philosophie als Methodenlehre  

Methode meint bei Rickert durchgängig ein Verfahren, das von außen an das empirische Material herangetragen wird. Der Unterschied von generalisierender naturwissenschaftlicher Methode und individualisierender historischer Methode ist ausdrücklich nicht durch den Gegenstand bestimmt, denn Gegenstand der Einzelwissenschaften ist die unendliche Mannigfaltigkeit der Anschauung, d.h. die Totalität dessen, was über das sinnliche Erlebnis ins  menschliche Bewusstsein gelangt ist. Dieses oder jenes Diskretum wird erst zum besonderen Gegenstand durch den entsprechenden Wert, der den beiden Methoden jeweils zu Grunde liegt. Dadurch aber bleibt die Methode ihrem Gegenstand bloß äußerlich. Sobald man die konkrete Forschung in den Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft analysiert, wird die Abstraktheit, Unzulänglichkeit und Falschheit des Methodendenkens von Rickert klar.

 Grundlage der modernen Naturwissenschaften seit Bacon und Galilei ist das Experiment. Dieses aber hat es immer mit individuellen Gegenständen zu tun. Diese müssen erst so präpariert werden, dass sie zu reproduzierbaren Resultaten führen, d.h. ihre individuelle Gestalt wie ihre allgemeine Bestimmung sind konstitutiv für das allgemeine Gesetz. Das Verhältnis des Forschers zu seinen noch unbekannten Gegenstand, dessen Gesetze erst vermutet werden, ist ein artistisches Verhältnis, „dem das mimetische Moment, die Anpassung des Versuchsaufbaus an die erst vermuteten objektiven Verhältnisse, das Mittel ist, diese objektiven Verhältnisse dadurch zu erkennen, daß sie fixiert werden, der zunächst variable Versuchsaufbau zur Methode sich verfestigt. Das artistische Verhältnis zum Gegenstand ist das Wesen der experimentellen Arbeit, aber es ist nur als in deren Ziel, der normativen Methode, verschwindendes Wesen. Im Resultat ist der Prozeß, der zu ihm führte, nicht aufgehoben, sondern ohne Rest verschwunden.“ (Bulthaup: Funktion, S. 46)

 Auch kann ein Physiker oder Chemiker z.B., der seine Wissenschaft allein aus dem Lehrbuch lernt, seine Wissenschaft nicht begreifen, er benötigt den Umgang mit den empirischen Material. „Die Praktika dienen der Einübung der Operationen mit standardisierten Substanzen, durch welche das abstrakte chemische Wissen mit einer für den einzelnen empirisch faßbaren Realität vermittelt wird. Die Praktika dienen also nicht der Aneignung von Wissen als eines gesellschaftlichen Potentials, sondern der Einübung der Techniken zur Aktualisierung dieses Potentials.“ (Bulthaup: Gesetz, S. 187)  Dadurch aber bleibt die Differenz z.B. von Schwefel als Allgemeinbegriff und „diesem Schwefel hier auf dem Tisch“ konstitutiv für die Naturwissenschaften. Das Allgemeine ist nur das Allgemeine eines Besonderen, von dem die Wissenschaft gerade nicht völlig abstrahieren kann. Damit kann sie aber nicht einfach von dem Individuellen absehen, wie Rickerts naturwissenschaftliche Methode fordert.

 Ein Sachverhalt muss reproduzierbar sein, damit das Experiment auch von anderen Wissenschaftlern überprüft werden und evt. in einer Fabrik als Teil eines Produktionsprozesses fungieren kann. Das setzt nicht nur die an sich Bestimmtheit und die Bestimmbarkeit des Materials voraus, sondern auch eine Methode, die dem Material entspricht. Peter Bulthaup erklärt, warum sich der Gedanke der gegenüber dem Material verselbstständigten Methode herausbilden konnte. „Bedingung der Reproduzierbarkeit ist das identische experimentelle Arrangement, die normative Methode, die nur, wenn sie auf ein an sich völlig bestimmungsloses Material ginge, für sich allein zureichender Grund für die Identität des von ihr Bestimmten wäre. Die Notwendigkeit experimenteller Arbeit zeigt aber, daß dem Arrangement, dem Versuchsaufbau ein objektiver Zusammenhang im Gegenstand der Untersuchung entsprechen muß, damit der Versuch gelinge. Das Wesentliche experimenteller Arbeit, den Versuchsaufbau so lange zu variieren, bis er dem bis dahin nur vermuteten, erst zu erkennenden objektiven Zusammenhang entspricht, die Unzahl fehlgeschlagener Versuche, aus denen erst der gelungene resultiert, erscheint nicht in den wissenschaftlichen Publikationen. Ist die richtige Versuchsanordnung einmal gefunden, so bleibt sie normativ für die Reproduzierung des Versuchsergebnisses. Dadurch entsteht der Schein, die normative Methode, das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit, sei deren Wesen.“ (Bulthaup: Funktion, S. 45 f.)   Diesem Schein sitzt die Rickertschen Methodenlehre auf.

Zurück zum Anfang der Kritik

 Ebenso wenig verfährt die Naturwissenschaft einfach generalisierend, wie Rickert sagt, sondern sie schließt aus allgemeinen Bestimmungen neue allgemeine Bestimmungen. Im weiteren Forschungsprozess und der Akkumulation von Wissen findet eine Entwicklung von allgemeinen Bestimmungen statt, die historische Voraussetzungen hat. Akkumulation des Wissens „heißt nicht, wie das Wort nahelegen möchte, Anhäufung von Einzelergebnissen, die alle gleich unmittelbar aus Naturgegenständen gewonnen werden, sondern im Prozeß der Akkumulation wird jedes Ergebnis von dem vorher schon erreichten Stand der Wissenschaft abhängig, weil die schon vorhandenen Resultate als Instrumente in die neue Untersuchung eingehen.“ (Bulthaup: Gesetz, S. 190)  Diese Akkumulation des Wissens hat historische und soziale Bedingungen, die in das Wissen eingehen, so dass Rickert strickte Trennung von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft die Sache eher verdunkelt als erhellt. „In der Wissenschaft akkumuliert sich die gesellschaftliche Erfahrung der Auseinandersetzung mit der Natur. Die Resultate dieser Akkumulation sind mit dem lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhang der einzelnen Wissenschaftler nicht mehr zu vermitteln, sie stehen ihnen als erdrückende Stoffülle gegenüber.“ (A.a.O., S. 190 f.)

 Abstrahiert man von den historischen und sozialen Voraussetzungen der Naturwissenschaften, wie Rickert es durchgängig mit seiner abstrakten Methodenlehre macht, dann reproduziert man den Fetischcharakter der Warenproduktion im naturwissenschaftlichen Denken. „Die Standardisierung von Sachverhalten, das Herausarbeiten der allgemeinen Form des Sachverhalts als der im Prinzip für alle Menschen gleichen Form des Sachverhalts ist eine gesellschaftliche Anstrengung der Menschen in der Auseinandersetzung mit der Natur. Wenn das Resultat dieser gesellschaftlichen Anstrengung dann durch die Identifikation des empirischen Sachverhalts mit der allgemeinen Form des Sachverhalts erscheint als Eigenschaft eines bestimmten Gegenstandes, dann besteht eine genaue Analogie zum Fetischcharakter der Ware, durch den ein gesellschaftliches Verhältnis als Eigenschaft von Gegenständen erscheint.“ (Bulthaup: Gesetz, S. 182)  Dieses am Beispiel von standardisierten und individuellen Sachverhalten aufgewiesenes Ineinandergreifen von Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft (bei Rickert „Kulturwissenschaften“) widerspricht nicht nur Rickerts Methodenlehre, sondern auch seiner abstrakten Trennung dieser beiden Wissenschaftsgruppen. Die Reflexion auf die soziale Funktion der Naturwissenschaften ist praktisch notwendig, will man nicht ein bloßes Mittel des kapitalistischen Reproduktionsprozesses bleiben. Indem Rickert diese Reflexion ausblendet, offenbart sich in seiner abstrakten Methodenlehre die Leerstelle, die das ideologisches Moment seiner Distinktionen deutlich macht.

Zurück zum Anfang der Kritik

 Ein Grund für dieses falsche Denken, neben Rickerts Unvermögen und seiner ideologischen Intention, liegt in der unverstandenen Tendenz der Naturwissenschaften selbst. „Da die weitere Entwicklung jeder Naturwissenschaft aufbaut auf ihren eigenen Resultaten, diese konstitutiv sind für die jeweils neuen, führen die Akkumulation des normativ-methodischen Moments und dessen technisches Korrelat, das immer aufwendigere Instrumentarium, schließlich zur totalen Vorherrschaft der in Methode und Apparatur vergegenständlichten Arbeit über die lebendige wissenschaftliche Arbeit. Nach dem ihr immanenten Entwicklungsgesetz transformiert sich jede Naturwissenschaft in Technologie.“ (Bulthaup: Funktion, S. 46)  Anstatt diesen Sachverhalt aufzuklären, verdunkelt Rickert „die totale Vorherrschaft der Methode“, die den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entspricht, indem er ihr die philosophische Weihe erteilt.

 Die in den Naturwissenschaften potenziell erreichte „Emanzipation von der Unmittelbarkeit der unwirtlichen ersten Natur“ (Bulthaup), schlägt durch die undurchschaute gesellschaftliche Formbestimmtheit ihrer Anwendung in der kapitalistischen Produktionsweise um in eine naturwüchsige Fortsetzung des Stoffwechsels von Mensch und Natur, der heute zur Auslöschung der Spezies Mensch führen kann.

 Andererseits ist die Bestimmung der historischen Methode als individualisierende genauso abstrakt und falsch. Am ehesten noch entspricht sie der Biografie, wie etwa Rickerts Arbeit über Goethe. Es gibt aber kaum einen Historiker, der eine Epoche darstellt oder eine Spezialuntersuchung etwa über die Hanse anstellt, der allein nach der individualisierenden Methode vorgeht. Er will immer auch allgemeine Tendenzen, Schaffung von allgemeinen Voraussetzungen für die Gegenwart und historische Gesetze erkennen. Rickert dagegen lehnt Gesetze in der Geschichte ab, nicht nur weil es sie nicht geben kann, sondern auch weil sie das Individuelle zum bloßen Exemplar herabsetzen. (Vgl. Rickert: Geschichtsphilosophie, S. 99)  Eine bloß individualisierende historische Methode machte aus der Geschichte ein Konglomerat von Einzelgestalten, an denen sich dann der Wertphilosoph im Garten seines Wissens ergötzen kann, indem er seine Werte herausfischt. Aber Geschichte ist keine Aneinanderreihung von individuellen Gestalten, die willkürlich nach Werten ausgewählt werden, die in sie hineingedeutet werden. Fortschritt in ihr ist keiner im Bewusstsein der Werte, deren philosophischer Begriff erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von Lotze erfunden wurde, sondern Geschichte folgt einer immanenten Entwicklung, die bei allen Brüchen und Katastrophen Erfahrungen hervorbringt, die verallgemeinert als Vernunft erscheinen, mit deren Hilfe in der Geschichte wiederum ein immanenten Maßstab entwickelt wird, mit dem ihr Verlauf kritisiert werden kann. (Vgl. Mensching: Allgemeine, S. 13)

Zurück zum Anfang der Kritik

 Wenn  die Methode nicht etwas Abstraktes sein kann, das einem Gegenstand äußerlich angetragen wird, dann kann die Methode nicht ein vom Gegenstand und dem Inhalt des Denkens völlig Unterschiedenes sein. Sind Methode und Gegenstand etwas völlig Verschiedenes, so fallen sie doch in ein Bewusstsein. Das Bewusstsein teilt sich in abstrakte Methode und einen der Methode fremden Gegenstand, indem sie doch zusammen eine Erkenntnis konstituieren. Indem die Methode dem Gegenstand äußerlich ist, widerspricht sich das Bewusstsein in sich, wie an den Beispielen aus der Naturwissenschaft gezeigt wurde. Deshalb kann eine wahre Methode entgegen dem Rickertschen Begriff von ihr nur das Bewusstsein von der Form der immanenten Entwicklung ihres Inhalts sein. So sagt Hegel zurecht: „Die Methode ist auf diese Weise nicht äußerliche Form, sondern die Seele und der Begriff des Inhalts, von welchem sie nur unterschieden ist, insofern die Momente des Begriffs auch an ihnen selbst in ihrer Bestimmtheit dazu kommen, als die Totalität des Begriffs zu erscheinen.“ (Hegel: Enzyklopädie, S. 392)  Dass die philosophische Bestimmung der Methode auch das Moment der „Äußerlichkeit“ gegenüber der Selbstvergewisserung des Ganges der Sache hat, ohne deshalb dieser Sache abstrakt gegenüber zu stehen, darauf hat Andreas Arndt aufmerksam gemacht. (Arndt: Methoden-Reflexion, S. 246 f.)

 Philosophie kann dann auch keine Methodenlehre mehr sein wie bei Rickert, sondern ist selbst Teil der Geschichte, zumindest was die europäische Philosophie betrifft. „Beide, die Grundstruktur der historischen Welt und das philosophische Denken, weisen eine immanente Folgerichtigkeit auf, die sich durch schroffe Widersprüche und abrupte Brüche ebenso herstellt wie durch die stimmige Fortsetzung bereits vorhandener Entwicklungslinien. Die in der Zeit durch Kritik und Affirmation des jeweils Vorgegebenen sich entfaltende Kontinuität des philosophischen Denkens ist der komprimierteste Ausdruck der historischen Bewegung, deren scheinbare Fatalität sie sich zugleich durch die Frage nach ihrer immanenten Vernunft und Unvernunft autonom entgegenzustellen sucht.“ (Mensching: Allgemeine, S. 13)  In diesem Sinn gehört die Rickertsche Methodenlehre und die ihr vorausgesetzte Werttheorie, zu den abrupten Brüchen im Denken, weil sie hinter den Stand des Denkens bei Hegel, der selbst wieder der Kritik bedarf, zurückfällt.

 Erst die Trennung von Methode und Gegenstand macht überhaupt eine Werttheorie notwendig. Mit der Kritik dieser Trennung fällt auch hier der Ansatz der Rickertschen Wertphilosophie in sich zusammen. Umgekehrt gilt: Wenn man Methode und Gegenstand radikal trennt, dann ist eine Wertbestimmung für die Wissenschaft nötig, soll das Denken nicht völlig willkürlich werden.

Die Rickertsche Methodenlehre muss nach seiner immanenten Konstruktion stehen oder fallen mit der Begründung der Werte, die ihr zu Grunde liegen. Insbesondere die Kulturwerte sind die Voraussetzung seiner individualisierenden Methode in der Kultur- und speziell in der Geschichtswissenschaft. Die theoretischen Werte wurden bereits als subjektive Setzungen kritisiert, weil sie zirkulär begründet sind, und im Übrigen als überflüssig bestimmt, weil sie sich nur für eine falsche Immanenzphilosophie Rickertschen Typs als Voraussetzungen ergeben. Insofern diese Bestimmungen berechtigt sind, gehören sie zur Logik, sind aber keine Werte. Ob sich kulturwissenschaftliche Werte mit objektiver Geltung bestimmen lassen, ist nun zu untersuchen.

Zurück zum Anfang der Kritik

Weiter zum Kapitel 10

Wenn Sie uns Ihren Kommentar schreiben

wollen, können Sie dies über unser:

 

 

Feedback-Formular

 

 

Zum Download der Nr. 17

 

Unsere Internetpräsens

 

Unser herausgebender Verein zur Förderung des dialektischen Denkens.

Sahen so die Erinnyen aus?

 

Die Erinnyen Nr. 15  und Nr. 16 können 

kostenlos heruntergeladen werden!

 

Herrschft gestern und heute - Moralisches Dilemma linker Gesellschaftskritik - Gegen linkssozialdemokratische Illusionen - Moral und Herrschaft

Herrschft gestern und heute

Unsere  

Internet-Buchhandlung:

Elemente faschistischer Kontinuität

Unser Grundlagenwerk

Logik als aufgehobener Naturzwang

u.a.

 

Überblick und weitere Seiten unserer Internetpräsenz:

 

 

                                                                                          

Home ] Nach oben ]

Senden Sie E-Mail mit Fragen oder Kommentaren zu dieser Website an: redaktion@zserinnyen.de 
Copyright © 2006 Erinnyen Zeitschrift für materialistische Ethik 
Impressum

Stand: 24. Juli 2006