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            Schluss: Max Weber     

 

 

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Schlussüberlegungen

17.  Die Probe aufs Exempel: Max Webers Soziologie

 Den Widerspruch in Max Webers Forderung nach Wertfreiheit, Wissenschaft solle wertfrei sein, bedürfe aber doch Werte, ist nur dann zu schlichten, wenn Werte sich objektiv begründen ließen. Nur dann wären diese objektiven Werte und die Objektivität der Wissenschaft kein Gegensatz. Meine Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass die neukantianische subjektbezogene Wertphilosophie keine Werte allgemein geltend begründen kann. Entsprechend ist dann auch eine Soziologie, die Werte als Auswahlkriterien für das empirische Material einsetzt, unwissenschaftlich. Dies lässt sich an der „berühmten Studie“ (Klappentext) „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von Max Weber verdeutlichen.

 Weber folgt der neukantianischen Wissenschaftsauffassung von Windelband und Rickert. Danach bestimmen die Werte, auf die Soziologie angewandt, die Auswahl der Gegenstände aus der prinzipiell unendlichen Mannigfaltigkeit des Erfahrbaren. Wirklich im strengen Sinn sind nur die Individuen (vgl. Windelband: Präludien 2, S. 155), entsprechend geht Weber in seinem soziologischen Verständnis von den Individuen aus und konstruiert deren Beziehung, die sie in der Gesellschaft einsprechend ihren Wertvorstellungen eingehen. Eine solche Auffassung ist nicht nur rein formal, sie ist auch blind gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaft. (Vgl. Hofmann: Soziologie, S. 51)

 In der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Ökonomie werden die Arbeitsprodukte der Produzenten zu gesellschaftlichen Verhältnissen, während die Verhältnisse von Personen wie Beziehungen von Sachen funktionieren (Marx: Kapital, S. 87). Die Menschen erzeugen einen Mechanismus, der sie beherrscht und der als „automatisches Subjekt“ sich durch Krisen, Friktionen und ihren sozialen Katastrophen als bestimmender herstellt. Dass aus der Perspektive von Individuen, weder als Arbeitskräfte noch als Kapitaleigner, die kapitalistische Produktionsweise nicht begreifbar ist, macht Frank Kuhne deutlich: 

„Die Analyse der Formbewegung des Kapitalwerts im Reproduktionsprozeß der Einzelkapitale erweist diese als abhängig von einer Totalität, die sie allererst konstituieren. Weil kein Einzelkapital ökonomisch und technisch in sich subsistiert und alle Einzelkapitale qua Austausch notwendig auf die Totalität des gesellschaftlichen Kapitals verwiesen sind, muß das gesellschaftliche Kapital mehr sein als die allgemeine Form der Einzelkapitale. Es kann nicht nur der Quantität, sondern muß der Qualität nach von den Einzelkapitalen unterschieden sein. Es muß die notwendigen Bedingungen der Reproduktion der Einzelkapitale beinhalten, die diese aus sich nicht herstellen können. Seine Allgemeinheit kann deshalb nicht nur extensional bestimmt sein, sie muß vielmehr eine spezifische Differenz zu den Einzelkapitalen einschließen.“ (Subjekt, S. 80)

 Der Zweck des Gesamtkapitals technisch die Produktion um der Produktion willen und ökonomisch die Akkumulation von Mehrwert wird den Einzelkapitalen aufgezwungen bei Strafe ihres Ruins. „Der unmittelbare Zweck der individuellen industriellen Kapitale, die Produktion von Mehrwert ungeachtet der spezifischen Bestimmtheit seines materiellen Substrats, ist vermittelt durch den allgemeinen Zweck der Produktion von akkumulierbaren Mehrwert.“ (Subjekt, S. 81)  Damit ist aber auch das Verhältnis der Individuen in ihrer wesentlichen Bestimmung als Mehrwertproduzent oder als Aneigner des Mehrwerts qua Eigentumstitel vorbestimmt, unabhängig von dem, was sie denken und sich einbilden.

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 Die formale bürgerliche Soziologie (und eine andere gibt es kaum) ist blind gegenüber diesem Zusammenhang. Für Max Weber sind diese gesellschaftlichen Mechanismen, welche die Individuen bestimmen, nur Gespenster. Es ist ihm „nicht beigekommen“, „’den treibenden Faktor des geschichtlichen Geschehens’ irgend einer Epoche oder irgendwelche ‚wahrhaft treibenden Kräfte’ zu finden: - denn derartige Gespenster gibt es für mich nicht in der Geschichte“. (Weber: Geist, S. 334)  Stattdessen untersucht Weber das „Maß“ der Beeinflussung durch religiöse Motive, die bei der Entstehung des Kapitalismus eine Rolle gespielt haben. „Damit jene der Eigenart des Kapitalismus angepaßte Art der Lebensführung und Berufsauffassung ‚ausgelesen’ werden, d.h.: über andere den Sieg davontragen konnte, mußte sie offenbar zunächst entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als eine Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragen wurde.“  Und er weist ausdrücklich darauf hin, „daß jedenfalls ohne Zweifel im Geburtslande Benjamin Franklins (Massachusetts) der ‚kapitalistische Geist’ (in unserem hier angenommenen Sinn) vor der ‚kapitalistischen Entwicklung’ da war (es wird über die spezifischen Erscheinungen profitsüchtiger Rechenhaftigkeit in Neuengland – im Gegensatz zu anderen Gebieten Amerikas – schon 1632 geklagt), daß er z.B. in den Nachbarkolonien  - den späteren Südstaaten der Union – ungleich unentwickelter geblieben war“. (Weber: Geist, S. 79)

 Nun sind solche geistesgeschichtlichen Untersuchungen nicht einfach falsch, aber ihre Interpretation ist bei Weber falsches Bewusstsein. Der Tendenz der Arbeit von Weber liegt die These zu Grunde, dass religiöse Wertvorstellungen den Kapitalismus zumindest in bestimmten Gegenden hervorgebracht haben. Dass auch die Ökonomie den protestantischen Geist als Geist des Kapitalismus begünstigte, bestreitet Weber nicht, woraus sich dann wieder neue Forschungsfelder für die formale Soziologie und Geschichtswissenschaft ergeben: Wer war eher da, der Geist oder die ihm entsprechende Ökonomie.

 Dass das bürgerliche Lesepublikum Webers These als Vorrang der religiösen Ideen und Lebenshaltungen vor den Zwängen der kapitalistischen Ökonomie verstand, zeigt die Rezeption dieser Weberschen Schrift bei Rickert. Er führt den protestantischen Geist des Kapitalismus als Beleg gegen die Marxsche (von ihm bewusst falsch interpretierte)  materialistische Geschichtsauffassung an: Man wird es „wohl von vornherein als nicht sehr wahrscheinlich bezeichnen dürfen, daß die unter parteipolitischen Gesichtspunkten gewonnenen Wertprinzipien des Marxismus zur Deutung auch des Sinnes der Universalgeschichte geeignet sind. Man denke z.B. an Max Webers Untersuchungen über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Kann man ihnen gegenüber noch an einer rein ‚materialistischen’ Deutung auch nur der gesamten Wirtschaftsgeschichte festhalten?“ (Rickert: Geschichtsphilosophie, S. 115)

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 Angesicht dessen, was der Kapitalismus wirklich ist, wird dieses Problem vom Geist oder Ökonomie zum Scheinproblem. Der Webersche Ausgangspunkt vom Individuum, das Gesellschaft konstituiert, ist genauso formal und willkürlich wie die leitenden Werte, nach denen der Soziologe das empirische Material konstruiert. Für Werner Hofmann ist deshalb diese formalistische Soziologie zur Ideologie geworden. (Vgl. Soziologie, S. 52)  Er kritisiert, dass Beziehungen der Individuen zum letzten Grund der Gesellschaft stilisiert werden, während sie in Wirklichkeit von einem Kapitalmechanismus beherrscht werden. Das Gesellschaftliche wird dann „als unmittelbare Beziehung von Personen aufeinander mißverstanden“ (S. 53). Die Tauschbezeihungen der Menschen werden als zweckrationale Handlungen verklärt; statt der Heteronomie wird die Autonomie der Individuen unterstellt. Die Gesellschaft und ihre Individuen als Bedingtes wird zum Unbedingten gemacht.

 Selbst eine scheinbar „wertneutrale“ Darstellung sozialer Tatsachen, falls es so etwas überhaupt geben kann, ist ideologisch, da die Tatsachen selbst ein ideologisches Moment enthalten. „Marx zufolge produziert das Kapital mit seinen gegenständlichen Bedingungen zugleich auch deren ökonomische und soziale Formbestimmtheiten. Soweit die Subjekte ihre unmittelbaren Interessen in der kapitalistischen Produktionsweise verfolgen, sind diese Formbestimmtheiten die Formen, in denen ihr Bewußtsein mit der Realität übereinstimmt. Doch indem ihr Bewußtsein der gesellschaftlichen Realität adäquat ist, ist es notwendig falsch, weil Bewußtsein einer falschen Realität.“ (Kuhne: Subjekt, S. 79)  Die „wertneutrale“ Darstellung des Warentausches z.B. verschleiert, wenn man ihn als Beziehung von Individuen zur Bedürfnisbefriedigung begreift, die in den Waren inkarnierte Herrschaft in Form des Mehrwerts.(Vgl. Bulthaup: Gesetz, S. 259)

 Wenn aber die Weberschen Analysen mehr an der kapitalistischen Gesellschaft verschleiern als sie erhellen, also ideologische Funktion haben, dann ist die Einsicht Max Webers in die Unmöglichkeit, objektive Werte zu begründen, zugleich eine indirekte Rechtfertigung seiner ideologischen Konzeption. Er kann "seine" bürgerlichen Werte ins Spiel bringen und sich ansonsten auf die Unmöglichkeit berufen, objektive Werte zu begründen. 

Der Grund dafür, dass eine Wertdiskussion nicht zu einer von allen Menschen einsehbaren rationalen Begründung von Werten führen kann, liegt für Max Weber in der Ungleichheit in der Gesellschaft. „Zu den von keiner Ethik eindeutig entscheidbaren Frage gehören die Konsequenzen des Postulats der ‚Gerechtigkeit’. Ob man z.B. (...) dem, der viel leisten kann, auch viel fordert, ob man also z.B. im Namen der Gerechtigkeit (...) dem großen Talent auch große Chancen gönnen solle, oder ob man umgekehrt (wie Babeuf) die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß das Talent, dessen bloßer Besitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für sich ausnützen könne: - dies dürfte aus ‚ethischen’ Prämissen unaustragbar sein. Diesem Typus entspricht aber die ethische Problematik der meisten sozialpolitischen Fragen.“ (Wertfreiheit, S. 269) 

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 Hier wird der soziale Antagonismus der kapitalistischen Gesellschaft auf die Ungleichheit der Talente reduziert, als ob nicht „bessere Chancen“ mehr vom Vermögen als vom Talent abhängen. In einer kommunistischen Gesellschaft, in der das Prinzip „jeder nach seinen Leistungen, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Marx) verwirklicht wäre, würde sich dieses moralische Dilemma gar nicht mehr stellen. Als Folge solcher in der Klassengesellschaft nicht schlichtbaren ethischen Konflikte (vgl. Wertfreiheit, S. 192) sind für Max Weber „letzte Wertfragen“ grundsätzlich nicht entscheidbar. „Nur positive Religionen – präziser ausgedrückt: dogmatisch gebundene Sekten – vermögen dem Inhalt von Kulturwerten die Dignität unbedingt gültiger ethischer Gebote zu verleihen.“ (Wertfreiheit, S. 193) 

 Andererseits benötigt die angeblich „wertfreie“ Forschung in der Klassengesellschaft widersprüchlicherweise aber „Werte“: „Das Kennzeichen des sozialpolitischen Charakters eines Problems ist es ja geradezu, daß es nicht auf Grund bloß technischer Erwägungen aus feststehenden Zwecken heraus zu erledigen ist, daß um die regulativen Wertmaßstäbe selbst gestritten werden kann und muß, weil das Problem in die Region der allgemeinen Kulturfragen hineinragt. Und es wird gestritten nicht nur, wie wir heute so gern glauben, zwischen ‚Klasseninteressen’ , sondern auch zwischen Weltanschauungen, - wobei die Wahrheit natürlich vollkommen bestehen bleibt, daß dafür, welche Weltanschauung der Einzelne vertritt, neben manchem anderen auch und sicherlich in ganz hervorragendem Maße der Grad von Wahlverwandtschaft entscheidend zu werden pflegt, der sie mit seinem ‚Klasseninteresse’ (...) verbindet.“ (Wertfreiheit, S. 192) 

 Mit dieser Auffassung wird nicht nur die Klassengesellschaft als bestehende Norm anerkannt, als nicht hinterfragbarer Ausgangspunkt der Soziologie, sondern auch die Zwecke der Vernunft als je die von Klassen oder Interessengruppen. Dann aber entscheidet deren ideologisches Bedürfnis über den Forschungsgegenstand, sein „Verstehen“ und seine Interpretation. Das „Wertbedürfnis“ (Windelband) wird zum letzten Auskunftsmittel – und das ist bei Weber eines der herrschenden Klasse. Sozialwissenschaft, Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaft in ihren Hauptvertretern werden im Anschluss an den Neukantianismus und Max Weber bis in die Gegenwart hinein zu ideologischen Veranstaltungen zur Sicherung der Herrschaft des Kapitals.

 Dem gegenüber auf einen Klassenstandpunkt zu bestehen, der einer bürgerlichen Ideologie die Ideologie der Arbeiterklasse entgegenstellt, wie es z.B. Lenin macht (Empiriokritizismus, S. 131), ist genauso ein partikulares Wertedenken wie das bürgerliche. Nur vernünftige ethische Prämissen können für die Sozialwissenschaften zum Maßstab der Kritik werden, die allerdings stimmen dann mit den objektiven Interessen der heute noch unterdrückten Menschen nach Abschaffung von Herrschaft überein. Von solchen ethischen Prämissen ausgehend muss dann die Wissenschaft notwendig zur Kritik an den unvernünftigen Verhältnissen führen.

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18.  Subjektive und objektive Wertphilosophie

 Am Ende der kritischen Reflexion der Rickertschen Wertphilosophie ist es noch einmal nötig, immanent in sie einzusteigen, um den möglichen Einwand zu entkräften, mit der Erledigung dieser Varianter der subjektiven Wertphilosophie, sei noch nicht das Konzept einer Begründung der Werte vom Subjekt her generell widerlegt. Die Einschätzung von Schnädelbach, die Rickertsche Philosophie sei der Höhepunkt dieser Art Wertlehre, ist noch kein ausreichendes Argument (vgl. Schnädelbach, S. 222).

Unter der fragwürdigen Voraussetzung, dass man so etwas wie theoretische, kulturelle oder moralische Werte für erstrebenswert hält, wie es die Wertphilosophie aller Schattierungen  tut, kann man prinzipiell Werte aus dem Sein der Dinge oder aus dem Bewusstsein generieren und begründen. Die subjektive Werttheorie von Windelband und Rickert kann Werte objektiv nur begründen, durch ein transzendentales Verfahren, was immer das auch konkret heißen mag. Alle anderen Begründungen wären singuläre oder partikuläre Setzungen aus den Interessen von Personen oder Gruppen, und sei diese Gruppe das ganze Abendland.

  Eine transzendentale  Begründung fragt allgemein nach den Bedingungen der Möglichkeit von bereits Bestehendem. Dies Bestehende wird also bereits als anerkannt vorausgesetzt. Gehört zu diesem Bestehenden eine wahre Theorie, dann lassen sich z.B. ansatzweise (d.h. nicht systematisch) die theoretischen Bedingungen der Möglichkeit der wahren Theorie begründen: so die Begründung der Kategorien bei Kant. Eine Begründung des Begriffs der Wahrheit wäre zumindest auf diese Art ebenfalls möglich. Die Überhöhung dieses logischen Begriffs zum „theoretischen Wert“ ist aber nicht mit Notwendigkeit begründbar, da diese Überhöhung immer schon das Bedürfnis nach Werten voraussetzt. Dieses Bedürfnis nach Werten ist aber einer historischen Epoche, nämlich die des Verfalls der bürgerlichen Kultur, geschuldet, es ist aber kein wissenschaftliches Bedürfnis wie etwa die Begründung der Kategorien, die wahre Wissenschaft konstituieren.

 Einigermaßen zwingend wäre eine transzendentale Begründung von Werten nur, wenn es einen notwendigen Gegenstand gäbe, dessen Bedingung der Möglichkeit die Werte sind. Rickert kann einen solchen Gegenstand aber nur als bürgerliche Gesellschaft lokalisieren, die das Bedürfnis nach „Werten“, „Sinngebung“ und „Weltanschauung“ hat. Was diese Gesellschaft ist, wird aber bei ihm auch nur durch die Werte bestimmt, die vorerst aus dieser Gesellschaft erschlossen wurden. Diesen Zirkel muss jede subjektive Wertphilosophie eingehen. Sie hat dadurch nichts gegenüber einer empiristischen Begründung voraus, die notwendig der skeptischen Kritik verfällt. Auf jeden Fall bleibt das herrschaftlich verfasste Bestehende Grund und Zweck der Argumentation. So wie diese Gesellschaft historisch ist, so sind auch das Bedürfnis nach Werten und die Werte selbst nur als historische zu betrachten. Oder in meiner Terminologie formuliert: Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft kann nicht ohne Ideologie funktionieren, um die Lohnabhängigen, die sie notwendig für ihre Ausbeutung braucht, bei der Stange zu halten. Dieses sozial notwendige Bedürfnis nach Ideologie, deren eine Gestalt die Wertphilosophie ist, ist aber nicht wissenschaftlich notwendig, da es Wissenschaft mit Überhistorischem, also Gesetzmäßigen und allgemein Gültigen, zu tun hat. Dementsprechend gibt es keine wissenschaftlich gültigen Werte, die sich transzendental begründen lassen.

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 Rickert will dieser Konsequenz dadurch entgehen, dass er absolute (bedingungslose) Werte in einer eigenen Geltungssphäre behauptet bzw. mit einer gewissen Schein-Notwendigkeit begründet. Dies kann er aber nur durch eine metabasis eis allo genos (Sprung im Denken). Er schließt analog zur transzendentalen Begründung des logischen Begriffs der Wahrheit, die bereits allgemein gültige Erkenntnisse voraussetzen kann, auf ideologische Werte, die eine bestimmte soziale Klasse in einer historischen Epoche benötigt. Dass dies nicht geht, muss er letztlich zugestehen, indem er die Inkommensurabilität von logischen und kulturellen Werten annimmt. Diese Analogie der Begründung kann bestenfalls historisch gerechtfertigt werden, nicht aber allgemein gültig wie wissenschaftliche Resultate sein. Was als apriori behauptet wird, ist letztlich nur aposteriori erschlossen aus dem ideologischen Bedürfnis. Eine solche Begründung ist historisch lediglich durch die partikularen Interessen der herrschenden Klassen gerechtfertigt. Die behauptete transzendentale Geltungssphäre der Rickertschen absoluten Werte ist deshalb nur eine theoretische Erschleichung. Einer jeden Wertbegründung, die vom Subjekt her argumentiert, liegt eine solche Erschleichung zu Grunde. Eine Begründung von Werten allein aus dem menschlichen Subjekt heraus ist zwangsläufig immer partikular, interessenbedingt und historisch zufällig.

 Dies ist kein Argument für einen generellen Skeptizismus. Denn die Begründung von moralischen Prinzipien aus der Vernunft ist davon nicht betroffen. Kants Begründung des Sittengesetzes unterscheidet sich vom transzendentalen Idealismus Rickerts durch ihren Ausgangspunkt: Das Bestehen wahrer Wissenschaft, die sich in der Praxis als Bedingung der Möglichkeit der Gesellschaft bestätigt hat. Die Konsequenz einer Vernunftmoral, wie sie Kant entwickelt hat, führt bei stringenter Analyse der kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufig zu deren Kritik. Deswegen sind Werttheorien, die das Bestehende affirmieren und legitimieren wollen, auf idealistische Konstruktionen der Welt angewiesen. Erst eine idealistische Position  - gar gesteigert zur Immanenzphilosophie wie bei Rickert – ermöglicht ideologische Subreptionen.

 Der Idealismus identifiziert die Realität mit der theoretische Konstituierung dieser im Bewusstsein. Er fasst die theoretische Bestimmung als Produktion, nicht aber als gegenständliche Tätigkeit, sondern als Entäußerung der reinen Spontaneität des Geistes. (Vgl. die analoge Kritik von P. Bulthaup an Hegels Idealismus: Gesetz, S. 139 ff.)  Dies ist nicht nur falsch, da das Subjekt der theoretischen Konstitution von Realität seinen Gegenstand immer in Beziehung auf sich hin konstituiert.

 „Der Gegenstandsbereich ist immer schon sein Anderes, wenn es ihn mit Begriffen zu ordnen versucht. Weil das intensionale Moment der Begriffe etwas an den Gegenständen selbst treffen muß, sind diese zugleich Bestimmungen der Gegenstände selbst, und was die Gegenstände außer solcher Bestimmung sind, läßt von dem Subjekt sich nicht ausmachen, existiert für es nicht. Das Fortschreiten der  Bestimmungen der Gegenstände vervielfacht und differenziert die vom Subjekt kommenden Bestimmungen, das so seinerseits so viel an Konkretion gewinnt, wie seine Beziehungen zu seinem Gegenstandsbereich vielfach und differenziert werden, so daß am Ende der Prozeß der Bestimmung des Gegenstandsbereichs erscheint als der der Selbstbestimmung des Subjekts. Doch das Movens des Fortschreitens des Prozesses der Bestimmung des Gegenstandbereichs ist das noch Unbestimmte, das für das denkende Subjekt nicht Existierende.“ (Bulthaup: Gesetz, S. 140) 

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 Dieses für das denkende Subjekt noch nicht Existierende ist aber nicht „Seyn, reines Sein – ohne alle weitere Bestimmung“, wie Hegel meint, und auch kein „trancendentes Etwas“ überhaupt, das völlig unbestimmt ist, bzw. ein Irrationales im Bereich des psycho-physischen Erlebnismaterials, wie Rickert meint, sondern ein Ansichbestimmtes und durch uns Bestimmbares. „Für das Denken kann es kein bestimmtes Anderes vor dessen Bestimmung geben. Für das Subjekt aber, das ein Denkendes und ein Seiendes unter anderem Seienden ist, wird seine Bestimmung durch ein anderes Seiendes zum blinden Schicksal, gegen das es sich aufbäumt.“ (A.a.O., S. 140) 

 Ist das Denken als Bedingung seiner Möglichkeit auf gegenständlich Tätigkeit angewiesen, dann ist die Konstruktion der Wirklichkeit eingeschränkt und muss dem Vorrang des Objekts Rechnung tragen. Eine idealistische Konstruktion der Wirklichkeit, weil sie das subjektive Moment der Konstruktion verabsolutiert, erlaubt hingegen Erschleichungen, die eine theoretische Basis für Ideologeme sein können. Dass aus dem Idealismus Ideologie hervorgeht, dazu muss noch das Bedürfnis des bürgerlichen Philosophen nach Affirmation seiner Gesellschaft und eine Wirklichkeitsblindheit (wie bei Rickert) hinzukommen, bedingt durch die Anpassungsforderungen seiner sozialen Klasse.

 Das Besondere an Rickerts Idealismus ist seine hermetische Immanenzphilosophie, die das philosophische Denken mehr oder weniger auf Erkenntnistheorie, Logik und Axiologie einschränkt. Verfällt diese Art des Philosophierens auch im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb der Kritik, dann liegt es nahe, auf das kontradiktorische Gegenteil auszuweichen. Tatsächlich trat vor und nach dem I. Weltkrieg das Bedürfnis „Zu den Sachen“ (Husserl) auf. Dies aber führte zu einer neuen Ontologie und ontologischen Phänomenologie. „Hatte die alte Ontologie als metaphysica specialis bloß das Seiende im allgemeinen und sofern es Seiendes ist zum Thema, läßt die neuere Ontologie solche Beschränkungen fallen: alles Seiende, ‚die’ Wirklichkeit schlechthin, ist wieder Gegenstand philosophischer Erkenntnis. Die als Ontologie wiedererwachende Metaphysik tritt zum Gegenangriff  gegen die Okkupation der Wirklichkeit durch die Erfahrungswissenschaften an und damit zugleich gegen eine Philosophie, die in ihrer Selbsteinschränkung auf Logik und Erkenntnistheorie sich dem Angreifer  kampflos ergeben zu haben schien. Überhaupt steht die neuere Ontologie unter dem Pathos des Inhalts. Die ‚inhaltliche Leere des niedergehenden Neukantianismus, Positivismus und Psychologismus’ wird allgemein der Konzentration philosophischer Untersuchungen auf die Formen oder formalen Bedingungen der Erkenntnis angelastet“ (Schnädelbach: Philosophie, S. 233).

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 Doch so groß, wie es scheint, ist der Unterschied zwischen idealistischer Immanenzphilosophie und metaphysischer Ontologie gar nicht. Wenn nach Rickert Werte in einer eigenen Sphäre des Geltens angesiedelt sind, die unabhängig vom Subjekt und Objekt ist (vgl. Aufsätze, S. 14), d.h. unabhängig von aus dem Erlebnismaterial objektivierten Gegenständen und unabhängig vom denkenden Subjekt, dann muss diese Sphäre des Geltens ontologisch gedacht werden. Eine subjektunabhängige Sphäre, die nicht zu den Objekten gehört, kann nur ontologisch sein, auch wenn Rickert das bestreitet. Daran ändert auch nichts eine Differenzierung im Subjekt: Dass das empirische Subjekt nicht die Geltungssphäre enthält, betont Rickert immer wieder, es kann diese nur denken, erkennen und anwenden, enthält sie aber nicht aus eigenem Grund. Doch auch das wissenschaftliche oder transzendentale oder Gattungssubjekt soll nicht der Grund der Wertsphäre sein (vgl. Rickert: System, S. 124). So liegt es nahe die Wertsphäre als ontologische zu interpretieren. Dann aber unterscheidet sich die subjektive Wertphilosophie Rickerts gar nicht so radikal von der aufkommenden Ontologie eines Heideggers und der Phänomenologie eines Max Schelers und Nicolai Hartmanns.

 „Nicht mehr die Rückbesinnung auf die alles konstituierende Subjektivität, sondern nur noch der Dimensionsunterschied ‚Existieren-Gelten’ trennt diesen objektiven Apriorismus von der vorkritischen Metaphysik. So ist auch nicht mehr die objektive Wertwelt das Korrelat eines transzendentalen Normalbewußtseins wie bei Windelband, sondern umgekehrt: die Kantische ‚transzendentale Apperzeption’ wird als ideales Subjektkorrelat eines objektiven, aber irrealen Wertebereichs interpretiert, den wirkliche Subjekte nicht zu fundieren, sondern nur zu exemplifizieren vermögen. So wird deutlich, wie stark die Differenzen zwischen dem späten Neukantianismus und dem phänomenologisch fundierte Wertobjektivismus (...) üblicherweise überschätzt werden.“ (Schnädelbach: Philosophie, S. 224 f.)

 Wenn Werte als objektive und absolute uns zur Stellungnahme herausfordern, wir ihnen nicht gleichgültig gegenüberstehen können, wie den bloß Existierenden, wenn wir uns von ihnen „ergriffen und aufgerufen“ fühlen, dann sind diese Werte letztlich ontologische Bestimmungen des Subjekts wie schon bei Lotze oder ontologische Bestimmungen der Dinge wie bei Scheler. Diesen Gedanken weiter gedacht formuliert Scheler seine objektive Wertlehre, in der Werte ein „ideales Ansichsein“ haben, nach Nicolai Hartmann gilt dann: „Werterkenntnis ist echte Seinserkenntnis“ (zitiert nach Schnädelbach: Philosophie, S. 228). Der subjektive Idealismus Rickerts geht über in den objektiven Idealismus bei Scheler und Hartmann. 

Gegen die Ontologie Lotzes habe ich schon das entscheidende Argument von Kant angeführt, dass es keine subjektunabhängige Bestimmung des Seienden geben kann, weil jede Bestimmung kategorial verfasst ist, also immer nur mittels subjektiven Bestimmungen das Seiende fassbar ist. Eine positive Ontologie, die ein „ideales Ansichsein“ annimmt, ist eine Variante des Idealismus und setzt sich deshalb von vornherein dem Verdacht aus, theoretische Basis von ideologische Subreptionen zu sein. 

 Ob diese ontologische Wertlehre stimmig ist oder doch wieder bloße den bürgerlichen Menschen als historischen ontologisiert und damit verabsolutiert, wird der letzte Teil meiner Wertekritik zeigen (voraussichtlich 2007).

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Stand: 24. Juli 2006