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15.  Weltanschauung als Ideologie

Das Bedürfnis nach Weltanschauung entsteht im 19. Jahrhundert, nachdem das christliche Deutungsmuster der Welt nicht mehr akzeptabel war, weil es krass den neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprach und die Hoffnungen der Aufklärung und der Französischen Revolution auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit an der schmutzigen Praxis der kapitalistischen Industrialisierung zerstoben ist. Die Naturwissenschaften nahmen mit ihren Erfolgen eine Zeit lang in der Gestalt des „Vulgärmaterialismus“ die Stelle der Welterklärung ein, konnten aber wegen ihrer empiristischen Reduktion die Bedürfnisse nach einer Deutung der Welt als Ganzer nicht befriedigen. Deshalb versuchte schon sehr bald die Philosophie diese alte Aufgabe, die sie in der klassischen deutschen Philosophie eine kurze Periode durch ihren „Ruck des Geistes“ inne hatte, wieder zu erobern. Da sie aber die Radikalität des Denkens von Kant bis Hegel nicht übernehmen konnte, antwortete sie mit einer „Ästhetisierung der Philosophie“ (Schnädelbach: Philosophie, S. 122), verflachte zum Eklektizismus, versuchte die Philosophie zu retheologisieren oder verabsolutierte einzelne naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie der (Sozial-)Darwinismus.

 Selbst Friedrich Engels spricht in dieser Epoche von Weltanschauung, obwohl ein Grundpfeiler einer sozialistischen Weltdeutung die Marxsche Kapitalanalyse beileibe nicht anschaulich ist. Das gemeinsame Kennzeichen aller dieser Weltanschauungen ist ihr Irrationalismus (bei Engels ist zumindest der Terminus ‚Weltanschauung’ irrational, da die Welt als Totalität nicht anschaubar ist). Gegen einen generellen Irrationalismus wendet sich der Neukantianismus. Er will wieder die Philosophie als Wissenschaft betreiben. Da er aber zugleich auch das Bedürfnis nach „Weltanschauung“ befriedigen will, das er nicht rational geben kann, versucht er eine Verbindung von Ratio und Irratio. Dies kommt auch dem Philosophiebeamtentum im autoritären Kaiserstaat entgegen, da ein Philosophieprofessor durch eine aufgeklärte Variante der Weltdeutung seine ökonomische Existenz auf Spiel gesetzt hätte. Der Neukantianismus musste also eine Verbindung von Wissenschaftlichkeit und Irrationalismus entwickeln. Dies ist die historische Voraussetzung von Rickerts Weltanschauungslehre.

 Die Wertphilosophie hat nach Rickert die Aufgabe, „daß sie Weltanschauung geben, d.h. den Sinn des Lebens deuten soll“ (Rickert: Aufsätze, S. 21). Die „Weltanschauung“, auch für Rickert ein aporetischer Begriff (vgl. Rickert: System, S. 6), soll dennoch über die Sachwissenschaften hinaus eine Deutung der Totalität sein. Für Rickert ist es sogar die „wichtigste Aufgabe“ der Philosophie „Weltanschauung zu geben“ (System, S. 25). Da diese Weltanschauung aber auf dem „vorwissenschaftlichen“ und „außerwissenschaftlichen“ Ansichten beruht, kann sie nie völlig rational sein. Da der Philosoph „kein Gesetzgeber“ ist, „solange er Wissenschaft treibt“ (a.a.O., S. 27), kann die Weltanschauung auch nie wissenschaftlich begründbar sein. „Weltanschauungen bilden sich im vorwissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Leben. Sie zeigen die Form einer Religion, einer künstlerischen, einer sittlichen, einer politischen Ueberzeugung. Bei manchen sind sie auf den Namen eines großen Individuums getauft, das der Philosophie völlig fernsteht. Auch von einer Weltanschauung der Naturvölker, der Halbgebildeten oder der Kinderstube hat man geredet. Da fehlt dann jede Beziehung nicht nur zur Wissenschaft, sondern zum Erkennen überhaupt.“ (A.a.O., S. S. 25)  

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 Andererseits sollen die wissenschaftliche Philosophie und die Sachwissenschaften doch der Bezugspunkt der Weltanschauung sein. „So muß die Philosophie als reine Wissenschaft Weltanschauungsfragen behandeln, sei es auch nur, um das Verhältnis der theoretischen zu den atheoretischen Werten und damit die Beziehung des wissenschaftlichen zum außerwissenschaftlichen Menschen wissenschaftlich zu verstehen.“ (a.a.O., S. 28)  Die Philosophie werde dadurch zum Korrektiv der Weltanschauung. „Nicht Weltanschauungsphilosophie oder wissenschaftliche Philosophie darf also die Parole lauten, sondern wissenschaftliche Philosophie als Weltanschauungslehre heißt das Ziel der universalen Weltbetrachtung.“ (A.a.O., S. 28)

 Da die Welt als unendliche Mannigfaltigkeit mehr ist als die Wirklichkeit der konstatierbaren Tatsachen, ihren Verallgemeinerungen in Begriffen und Gesetzen sowie den historischen Individualitäten, lasse sich diese Totalität nur mittels der angewandten Wertlehre deuten. „Weltanschauung als Weltverständnis kann nie aus einem bloßen Subjektverständnis sondern nur aus einem Wertverständnis entspringen.“ (Rickert: Aufsätze, S. 12)  Weltanschauung ist dadurch nicht völlig rational, da die Deutung nie der wissenschaftlichen Stringenz der Einzelwissenschaften entsprechen kann, aber ohne solch eine Deutung der Welt als Ganzer einschließlich dessen, was er Heterologie nennt (vgl. Kapitel 7), kommen wir nach Rickert nicht aus. Das Bedürfnis der bürgerlichen Welt erfordert sie.

 „(...) erst auf Grund einer Wertlehre ist eine Weltanschauung, die mehr als Welterklärung (wie die Naturwissenschaften, BG) gibt, möglich. Den Wert der Kultur in ihrer geschichtlichen Mannigfaltigkeit müssen wir verstehen, dann erst kann sich uns auch der Sinn unseres Lebens durch Deutung von den Werten aus erschließen, denn auch die Verwerfung aller Kultur müßte, um begründet zu sein, durch ein Verständnis und eine Kritik der Kulturwerte hindurchgehen. Dann erst ist eine Antwort möglich auf die Fragen: Wohin streben wir eigentlich? Was ist der Zweck dieses Daseins? Was sollen wir tun? Dann gewinnen wir Richt- und Zielpunkte auch für unser Wollen und Handeln. Das aber ist das Höchste, was wir von einer Weltanschauung verlangen können.“ (Rickert: Aufsätze, S. 30)

 Auf Grund der obigen Kritik an der Sinngebung erweist sich Rickerts Wertphilosophie in ihrem Endzweck als ideologische Veranstaltung, als Rettung eines falschen bürgerlichen Bewusstseins, das im Untergang begriffen ist und bei aller Sophistik im Einzelnen sein Totalitätsbewusstsein nur noch als „Sinngebung des Sinnlosen“ (Theodor Lessing) veranstalten kann. 

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 Der grundlegende Begriff der bürgerlich kapitalistischen Welt ist der ökonomische Wert. Kapital erscheint als sich vermehrender Wert. Er bestimmt den höchsten Zweck, dem alle anderen Zwecke sich unterordnen: das Streben nach akkumulierbaren Mehrwert, die Anhäufung von Werten um der Werte willen. Die sinnlose Produktion um der Produktion willen ist das erfahrbare Resultat dieser Akkumulation von sich verwertenden Werten (Kapital) (vgl. Gaßmann: Ökonomie, S. 44 f. und Kuhne: Subjekt, S. 19 f.).  Und dieser Begriff des Wertes gibt Rickerts Philosophie sogar den Namen, und zwar zu recht. Denn erstens ist die Wertphilosophie die ideologische Absicherung der Verwertung des ökonomischen Wertes durch die Rechtfertigung der bürgerlichen Welt und durch die Überhöhung dieses Werts in die Idealität, die der philosophische „Wert“ darstellen soll. Zum zweiten folgt sie selbst immanent philosophisch dem Prinzip der Wertsetzung. Auch wenn sie nicht die menschlichen Beziehungen durch die „nackte bare Zahlung“ (Marx) ersetzen will, so taxiert sie doch die Menschen auch sozial nach Werten, um analog zur Ökonomie zu bestimmen, wie viel wert ein Mensch ist. Drittens kommt die gesamte Rickertsche Wertphilosophie, da sie prinzipiell nur die Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft zur Kenntnis nehmen kann, notwendig zu einem falschen Bewusstsein von dieser Gesellschaft, das die wahren gesellschaftlichen Mechanismen verhüllt.

 Die Weltanschauung, die Rickert präsentiert, ist keine an einer rationalen Philosophie orientierte Deutung dessen, was er Heterologie (vgl. Kapitel 7) nennt, sondern seine Wertlehre ist ein irrationaler Maßstab für die Deutung des Irrationalen, so wie er es versteht.

 Es ist schon eine merkwürdige Lektüreerfahrung, dass ein Denker des Historischen von diesem Gegenstand kaum eine Ahnung hat. Liest man Rickerts Bemerkungen über die wirkliche Geschichte, also nicht in erster Linie die über die Wissenschaftstheorie der Geschichte, so fällt auf, dass er von der tatsächlichen Geschichte, vor allem von den zeitgenössischen Ereignissen,  nichts versteht. Nun wäre die persönlich Unfähigkeit, die geschichtlichen Vorgänge und Ereignisse zu begreifen, an sich kein Argument gegen seine Wertphilosophie, die seiner Geschichtsauffassung zu Grunde liegt. Aber bei Rickert handelt es sich nicht nur um persönliche Unfähigkeit, sondern sein ganzer Ansatz, von Werten her die geschichtlichen Fakten zu deuten, macht ihn unfähig, diese zu begreifen. Denn die tatsächlich wirkenden Kräfte in der Gesellschaft können weder als psychophysische Erlebnisse noch in deren individualisierender Konstruktion mittels Werten zum Ausdruck kommen.

  Als sein Schüler und Freund Emil Lask in Galizien während des I. Weltkrieges bei einem Sturmangriff fällt, formuliert er nach dem Krieg: „als die feindliche Kugel ihn traf“. Er sieht in diesem Tod nicht nur den Verlust für die Philosophie, denn Lask habe Hoffnungen auf „die Schöpfung einer umfassenden Weltanschauungslehre“ gemacht, die „den Sinn des Daseins einheitlich auf wissenschaftlicher Basis zu deuten“ unternehmen wollte. (Vorwort zu: Lask: Fichte, VI f.)  Sondern er sieht in diesem „Opfer“ des Krieges sowohl ein „Ende, so bewundernswürdig und erhebend es persönlich anmutet“, als auch „eine trostlose Sinnwidrigkeit“ für seine Freunde und für die „deutsche Philosophie“. 

Da wird nationalistisch ein Freund-Feind-Denken auch nach dem Krieg noch gedacht. Da wird ein sinnloser Tod als „bewunderungswürdig und erhebend“ verklärt, aber kein Wort über die Ursachen des Krieges verloren. Da wird der Tod von Millionen Menschen dazu benutzt, seine problematischen Werte zu bestätigen. Obwohl sein Freund Lask „nicht fürs Militär geboren“ sei, lobt er seinen Entschluss in den Krieg als Freiwilliger zu ziehen: „Lask wollte an die Front, um das zu tun, was er für seine Pflicht hielt“ (A.a.O., S. XIV)  Das Abschlachten im Felde des imperialistischen Krieges wird als Pflichterfüllung verklärt. Der Krieg wird zu einem schicksalhaften Naturereignis umgedeutet, das nicht mehr begriffen werden kann. Und Rickert hebt individuelle Werte hervor, die im modernen Maschinen- und Chemiekrieg bereits belanglos geworden sind.   

 Ein solches moralisierendes und ideologisierendes Gequatsche hatte Karl Kraus dazu bewegt, vom Untergang der Menschheit zu sprechen. Das denkende Subjekt, das den Menschen vom Tier unterscheidet, sei mit der Kolonisierung der Hirne durch Propaganda im I. Weltkrieg untergegangen. Was als Bewusstsein übrig bleibe, sei das „wortgewordene Grauen“ (Vorwort zu: „Die letzten Tage der Menschheit“). Die Rickertsche Wertphilosophie liefert sozusagen die philosophische Basistheorie für diese Verblendung der Bewusstseine.

 Es kommt jedoch auch darauf an, die tieferen Ursachen für den Untergang des bürgerlichen Kulturbewusstsein zu reflektieren. Neben den materiellen Interessen und Gratifikationen, die mit einer ideologisierenden Philosophie verbunden waren und heute noch sind (vgl. Gaßmann: Wertphilosophie I, S. 52 f.), ist die Rickertsche Wertphilosophie auch nach dem Modell des Fetischcharakters der Waren konstruiert. In der kapitalistischen Produktionsweise ist der Wert der Waren als Durchschnittsgröße ein gesellschaftliches Verhältnis. Dieses Verhältnis ist aber nicht sichtbar, sondern erscheint als „gesellschaftliche Natureigenschaften“ der Dinge (Marx: Kapital I, S. 86)  „Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbstständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand.“ (A.a.O., S. 86)

 In strenger Analogie dazu ist auch Rickerts Wertphilosophie konstruiert. Da die Basis seines Denkens die psycho-physischen Erlebnisse sind, aus denen mittels Werten etwas als geltend herausgesogen wird, kann er bestenfalls  die Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft reproduzieren, diese aber erscheint als unbegriffene „gesellschaftliche Natureigenschaft“ der Dinge. Wie er auch nur die Oberfläche der Gesellschaft reproduzieren kann, so sind auch seine Auswahlkriterien, die Werte, fetischisierte Produkte des Denkens. Seine „Werte“ sollen transzendent sein und absolut gelten, während sie in Wirklichkeit Ideologeme zur Verschleierung der bürgerlich-kapitalistischen Welt sind, die auf Interessen und ideologischen Bedürfnissen beruhen. Rickerts Werte sind menschliche Produkte, die in einer „nicht-realen“ Sphäre der Geltung angesiedelt sein sollen wie der transzendente Gott. Die Werte Rickerts sind letztlich verselbstständigte zum Fetisch gemachte Produkte des bürgerlichen Geistes, der sein wahres Selbstbewusstsein aufgegeben hat und sein eigenes Denken als Ganzes nicht mehr begreift und es trotz aller subtilen philosophischen Reflexion in die Nebelregionen der profanen und religiösen Welt verflüchtigt. 

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16.  Der Fortschrittsbegriff als Kriterium 

      des Klassenstandpunktes

 Fortschritt in der kapitalistischen Gesellschaft ist unverkennbar an den Produktionsmitteln auszumachen. Deren permanente Revolutionierung hat auch gesellschaftliche Folgen, die zur Reflexion des Fortschritts in der ganzen Gesellschaft, letztlich in der Weltgesellschaft zwingen. An den Interessen, die diese Reflexion bestimmen, offenbart sich daher am deutlichsten der objektive Klassenstandpunkt einer Gesellschaftstheorie.

 

 

 Diese Alternative in der Bestimmung des Fortschritts stellt sich seit dem Aufkommen der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert und philosophisch mit den Analysen der kapitalistischen Produktionsweise durch Karl Marx. An Rickerts Begriff des Fortschritts lässt sich deshalb auch die Klassenbezogenheit seiner Wertphilosophie am deutlichsten demonstrieren.

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 Fortschritt ist nach Rickert wie für seinen Lehrer Windelband „Wertsteigerung“ (Rickert: Begriffsbildung, S, 419). „Erstens sind nämlich Fortschritt oder Rückschritt Wertbegriffe, genauer Begriffe von Wertsteigerungen oder Wertverminderungen, und von Fortschritt kann man daher nur dann reden, wenn man einen Wertmaßstab besitzt. Zweitens ist der Fortschritt das Entstehen von etwas Neuem, in seiner Individualität noch nicht Dagewesenem.“ (Rickert: Geschichtsphilosophie, S. 105)  Rickert wendet sich zurecht gegen jeden Geschichtsdeterminismus zum Fortschritt, weil das subjektive Moment in der Geschichte eliminiert würde. „Der Begriff des Wertmaßstabes aber als Begriff dessen, was sein soll, kann niemals mit einem Gesetzesbegriff zusammenfallen, der das enthält, was überall und immer ist oder sein muß, und was daher zu fordern, keinen Sinn hat. Sollen und Müssen schließen einander begrifflich aus“. (A.a.O., S. 105 f.)  Seine Ablehnung von historischen Gesetzen überhaupt, die er als geschichtliche Tendenzen mit Naturgesetzen fälschlich gleichsetzt, macht aber ein Begreifen des tatsächlichen Fortschritts bzw. Rückschritts in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft unmöglich.

 Auch wenn seine Kritik am Darwinismus und dessen Geschichtsdeterminismus richtig ist, da dieser biologische Bestimmungen zu absoluten Werten umdeutet (a.a.O., S. 107 f.), also Natur mit Kultur verwechseln, so ist Rickert blind für die ökonomischen Gesetze der Kapitalökonomie und des Klassenkampfes. So deutet er bewusst das „Kommunistische Manifest“ ins Absurde um, indem er den Klassenkampf des Proletariats und dessen möglichen Sieg über die Bourgeoisie aus einem Mittel polemisch zum „höchsten Gut“ verdreht. (A.a.O., S. 113)  Darin drückt sich nicht nur die Angst des Bürgers vor einer Revolution aus, sondern er braucht deshalb auf den von Marx und Engels bestimmten Zweck dieses Klassenkampfes gar nicht eingehen, wenn sie schreiben: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (Marx/Engels: Manifest, S. 482)

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 In der Rickertschen Verdrehung von Zwecken und Mitteln, die doch durch bloßes Lesen sofort widerlegbar ist, drückt sich das Interesse an der Erhaltung einer herrschaftlich verfassten Gesellschaftsordnung aus. Damit diese erst gar nicht zu Bewusstsein kommt, abstrahiert sein Begriff des Fortschritts als „Wertsteigerung“ auch von der wirklichen Geschichte und verlegt Fortschritt allein ins Bewusstsein. Dass Antagonismen in der Gesellschaft und zwischen den kapitalistischen Staaten Triebkräfte der Geschichte sind, hätte er schon bei Kant nachlesen können. „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird.“ (Kant: Idee, S. 37/A392)

Wird Geschichte allerdings bloß als eine Aneinanderreihung von individuellen Diskreta angesehen, dann genügt bereits eine heroische Einzeltat oder eine kurze gesellschaftliche Epoche ohne größere Konflikte, um von Wertsteigerung zu sprechen. Was tatsächlich in der Weltgeschichte als „Schlachtbank“ (Hegel) geschieht, wird ausgeblendet. Dafür ist die Rickertsche Wert- und Geschichtsphilosophie von ihrem Ansatz her systematisch blind. Entsprechend konnte ihr Theodor Lessing konstatieren, dass ihre Sinndeutung der Geschichte die Sinngebung des Sinnlosen ist (vgl. Kapitel 13). Explizit auf Rickert bezogen stellt Theodor Lessing in Bezug auf den Ersten Weltkrieg fest: „Der große Krieg hat aufs klarste bewiesen, was Begriffsphilosophie, die inmitten von Völkerbrand und Menschenmord, und wahrscheinlich auch noch beim Untergang der Erde hinter geschlossenen Fenstern über Geschichte, Logik, Ethik, Sinn und Entwicklung spekuliert, schließlich wert ist.“ (Lessing: Sinnlosen, S. 78)  Diese richtige Einsicht in die Blindheit der Rickertschen Geschichtsphilosophie ist aber selbst blind gegenüber rationalen alternativen Möglichkeiten dieser Geschichte, weil Lessing selbst mit den Verfallsformen des bürgerlichen Denkens das rationale Denken als solches über Bord wirft, indem er den menschlichen Geist zum „Lückenbüßer des Lebens“ reduziert  (a.a.O., S. 143), das „bewußtseinstranszendente“ Erlebnis gegen das „dürre Holz rationaler Begriffe“ (a.a.O., S. 77) ausspielt, mit dem er paradoxerweise allein seinen Irrationalismus präsentieren kann.

 Als Fazit kann man formulieren: Sobald Rickert seine formalistischen Reflexionen wie seine formalistische Bestimmung des Fortschritts verlässt und sich der sozialen Wirklichkeit zuwendet, wird er sofort offen ideologisch. Voraussetzung dieses Ideologischen ist dann das formalistische Philosophieren selbst, da es jeden Inhalt und sein Gegenteil zulässt, so dass letztlich das Klassenbedürfnis Rickerts entscheidend wird. Hatte Lotze als erster Philosoph seine Wissenschaft auf das ideologische Bedürfnis gegründet, so fällt Rickert, der Werte objektiv begründen wollte, faktisch wieder auf dieses Klassenbedürfnis zurück.

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Stand: 24. Juli 2006