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Das „Normalbewußtsein“ von Windelband

 3.   Neukantianismus der Südwestdeutschen Schule

 Der Neukantianismus der Südwestdeutschen Schule ist der direkte Fortsetzer der Lotzeschen Wertphilosophie. Windelband war ein Schüler Lotzes und Rickert ein Schüler von Windelband. Dieser persönlichen Verbindung korrespondiert auch inhaltlich die Übernahme des Wertbegriffs und anderer Philosopheme von Lotze. Das Neue am Neukantianismus gegenüber der Lotzeschen Philosophie ist, dass der Neukantianismus nicht mehr ontologisch argumentiert, sondern den Kantischen Apriorismus ins Idealistische steigert.

 Kant geht von wahrer Wissenschaft als Fakt aus. Diese ist widerspruchsfrei verfasst und hat sich in der gesellschaftlichen Praxis bewährt, indem sie zur Bedingung der Möglichkeit der Gesellschaft geworden ist. Ohne Newtonsche Mechanik keine Industrialisierung, ohne Industrialisierung kein Industriekapitalismus. Zu diesen wahren Wissenschaften  zählt Kant neben der Newtonschen Mechanik auch die Mathematik (vgl. KrdrV, S. B 20 f. und B 128).  Sind diese Wissenschaften wahr und notwendige Bedingungen der Gesellschaft, dann müssen auch ihre kategorialen Implikationen wahr sein, da sie notwendige Bedingungen wahrer Wissenschaft sind. Die Kantische Transzendentalphilosophie hat also Voraussetzungen, die vor ihr als Erkenntnistheorie liegen. Was Kant macht, ist, die kategorialen Bedingungen der Möglichkeit wahrer (existierender) Wissenschaft zu verallgemeinern, um sie auch auf andere Bereiche des Denkens wie z.B. die Moralphilosophie anzuwenden. Dieses Verhältnis von nachträglicher erkenntnistheoretischer Reflexion wahrer Wissenschaft und deren anschließender Verallgemeinerung dreht der Neukantianismus um, indem er die Erkenntnistheorie zum Ersten macht. Windelband schreibt dazu:

 „Die Tatsache, von der die Erkenntnistheorie ausgeht, ist nicht die, daß wir Erkenntnis haben, sondern die, daß wir sie in der Wissenschaft zu haben beanspruchen, und die Aufgabe der Erkenntnistheorie ist, zu unterscheiden, ob dieser Anspruch berechtigt ist. Theorie bedeutet also in diesem Falle nicht die Erklärung einer gegebenen Tatsache, sondern als philosophische Theorie eine kritische Untersuchung über die Berechtigung eines Anspruchs; sie hat also einen ganz andern Sinn als die erklärenden Theorien, welche die Möglichkeit eines Wirklichen dartun sollen.“ (Einleitung, S. 194 f.)  

 Deutlich wird diese idealistische Umkehrung der Erkenntnistheorie am Begriff des „Dinges an sich“. Da wir uns die Wirklichkeits-Erkenntnis mittels der Kategorien konstruieren, indem wir die Erscheinungen, die uns über die Sinne gegeben sind, organisieren, muss es eine menschenunabhängige Ursache der Erscheinungen geben, denn sonst könnten wir mittels unserer Einbildungskraft, unseres Verstandes und unserer Vernunft alles Mögliche und sein Gegenteil konstruieren. Objekte der sinnlichen Anschauung nennt Kant Erscheinungen. Sie sind die Grundlage aller weiteren Erkenntnisse. Gäbe es kein „Ding an sich“, das Erscheinungen in unseren Sinnen hervorruft, „würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinungen ohne etwas wäre, was da erscheint.“ (Kant: KrdrV,  S. XXVI f.)  Rickert will dieses Problem umgehen (siehe 8.), indem er einfach den Begriff der Erscheinungen ablehnt und ihn durch „psychophysische Erlebnisse“ und ähnliche Termini ersetzt – das Problem der ontologischen Fundierung menschlicher Erkenntnisse wird er durch solche terminologischen Taschenspielertricks allerdings nicht los. 

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 Andererseits ist jede Wirklichkeitserkenntnis nur als kategorial verfasste für uns, sonst wäre sie weniger als ein Traum (Kant: KrdrV, S. A 112). Der Begriff des Dinges an sich als das unbekannte Korrelat der Erscheinungen (KrdrV, S. B 45) ist deshalb ein notwendiger Begriff bei der Reflexion von menschlichen Erkenntnissen. Wenn man von dem Praxiskriterium der Wahrheit ausgeht, dann ist die Konstruktion einer Erkenntnis so lange unwahr, wie die Konstruktion nichts an der erscheinenden Wirklichkeit trifft bzw. diese nicht erklären kann, so dass man gezielt und planmäßig Teile der äußeren Natur mittels dieser Konstruktion verändern  kann. Das setzt nun wieder voraus, dass ein Etwas außerhalb des Bewusstseins existiert, das von unserer Konstruktion unabhängig ist und sich erst in der Einwirkung unserer Kräfte auf die extramentale Sphäre als Erscheinung offenbart. Auf diese Differenz zwischen extramentalen Sein und Bewusstsein weist der Begriff des Dinges an sich hin, ohne etwas ontologische Bestimmtes auszusagen, denn das wäre nur wieder kategorial verfasst. Als Begriff ist das „Ding an sich“ aber widersprüchlich: Es soll sein und zugleich als unbekannte Ursache der Erscheinungen gedacht werden, von dessen Sein wir nichts Bestimmtes wissen können, sondern nur dass es ist. Es ist uns unbekannt und zugleich sollen wir es doch annehmen als seiendes. Diesen Widerspruch aber muss das Denken als Erkenntnistheorie eingehen, will es sich nicht in die Nebelregionen der Theorie verlieren, will es nicht zur nominalistischen Beliebigkeit verkommen.

 Da wir nur zwei Erkenntnisquellen haben: die sinnliche Wahrnehmung und das begriffliche Denken, das Denkvermögen aber nur als widerspruchsfreies wahre Erkenntnisse liefern kann, lehnt Windelband den Begriff des Dinges an sich ab, auch wenn er ihm als polemischen Begriff gegen die Metaphysik eine gewisse Funktion zuerkennt (vgl. Einleitung, S. 227). „(...) da nun einmal alles, was wir vorstellen können, inhaltlich entweder der Welt des äußeren Sinnes oder dem Bereich des inneren Sinnes angehört, so bleibt das Ding-an-sich ein postuliertes Nichts, dem keine sachliche Bestimmung und keine formale Beziehung zugesprochen werden kann. Es ist dann für das Denken eine völlig nutzlose Annahme, aus der nicht das Geringste erklärt werden kann.“ (A.a.O., S. 227 f.)  Das Ding an sich ist ihm “nur ein Dunkelraum, in den man alle Probleme ungelöst hineinschöbe” (A.a.O., S. 228)  Dieses Ausblenden ontologischer Voraussetzungen – und seien diese auch negativ bestimmt wie bei Kant – hat aber Auswirkungen auf die Art des Philosophierens: Es wird im schlechten Sinne idealistisch. 

 Von einer Erkenntnistheorie ausgehend ist es notwendig, das nur widersprüchlich zu denkende „Ding an sich“ ebenso wie das „intelligible“ Substrat unserer allgemeinen Erkenntnisse der äußeren Natur (Kant: KrdrV, S. B 566) anzuerkennen, weil sonst die Differenz zwischen der menschlichen Erkenntnis und der extramentalen Wirklichkeit eingeebnet wird, weil man sonst in idealistische Schwärmerei oder einen „spiritualistischen Phänomenalismus“, wie Windelband selbst warnt, verfällt, also gar keine wahre Erkenntnis bekommt. Oder man behauptet, das „Ding an sich“ erkennen zu können, wie Engels, Lenin und der Sowjetmarxismus angenommen haben, indem sie in eine platte Abbildtheorie des Denkens zurückfallen, die schlicht behauptet, Abbild und Wirklichkeit seien identisch (vgl. Lenin: Empiriokritizismus, S. 42 f. u. passim). Eine solche Theorie verfällt aber der nominalistischen Kritik, wie sie schon im ausgehenden Mittelalter von Ockham u.a. geäußert wurde. Denn die Problematik bezieht sich nicht in erster Linie auf die sinnliche Wahrnehmung, sondern auf das Allgemeine in der Realität. Da theoretische Erkenntnisse sich auf ein inneres Wesen in der extramentalen Sache beziehen müssten, ist die entscheidende Frage, ob und wie dieses innere Wesen erkennbar ist. Behauptet man universalienrealistisch, der Begriff erfasse das innere Wesen der Dinge, so hat das zur Folge, dass dieses Wesen in den Individuen und zugleich auch als Allgemeines substanziell wäre (vgl. Ockham: Universalien, S. 475 ff.). Eine Substanz, die zugleich individuell und allgemein ist, wäre ein Unding, ein Widerspruch in sich. Tatsächlich wurden aber nur Erscheinungen zum inneren Wesen erklärt und so tautologisch verdoppelt (Haag: Fortschritt, S. 126).  Nichtsdestotrotz müssen unsere Erkenntnisse etwas an der Sache selbst (außerhalb des Bewusstseins) treffen, um als wahr gelten zu können. „Die Annahme von Inhalten des Denkens, die Abbilder transzendenter Wesenheiten wären, gilt als ‚erkenntnistheoretisch wertlos’ (Rickert, BG). Dem Neukantianismus entging nicht, daß es sich hier um eine naive Verdopplung empirischer Objekte handelte: inhaltliche Bestimmungen der allein bekannten immanenten Wirklichkeit waren zu Bestimmungen ‚transzendenter Realitäten’ ernannt worden. Von dieser richtigen Kritik der traditionellen Ontologie ist der Neukantianismus zu seiner idealistisch-positivistischen Konsequenz fortgeschritten: aufzuheben sei die alte metaphysische Unterscheidung von Ansichsein und Erscheinung der Dinge zugunsten der alleinigen Realität begrifflich fixierbarer Bewußseinsinhalte.“ (Haag: Fortschritt, S. 128 f.)  

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 Windelband und mit ihm der Neukantianismus will dieses Problem zwischen Denken und extramentaler Realität lösen, indem er die erkenntnistheoretische Begründung dafür fordert, ob Erkenntnisse als wahr gelten können. In der Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens ginge es um die Frage, „unter welchen Bedingungen die Gegenstände, die im empirischen Bewußtsein aus der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen erwachsen, eine über die Vorstellungsbewegung im Individuum und in der Gattung hinausreichende Bedeutung besitzen. Sie können das offenbar nur, wenn die Art der Verknüpfung sachlich in den Elementen selbst begründet und eben damit als Norm für jede individuelle Art des Vollzugs der Synthesis anzusehen ist. Nur wenn wir die Elemente in einem Zusammenhange denken, der ihnen selbst sachlich zukommt, nur dann ist der Begriff, den der Mensch denkt, eine Erkenntnis des Gegenstandes. Gegenständlichkeit des Denkens ist somit sachliche Notwendigkeit.“ (Einleitung, S. 233)  Erkenntnistheorie, die einmal bei Kant rekursiv auf bestehende wahre Wissenschaft reflektiert hat, wird bei Windelband und seinen Nachfolgern zu einem Ersten, das Erkenntnisse aus sich erzeugt mit allen Aporien, die dieses Denken eingehen muss (siehe die Kritik daran im 8. Kapitel über Rickerts Erkenntnistheorie).

 Eine „sachliche Notwendigkeit“ wird behauptet, die merkwürdig in der luftigen Höhe des Bewusstseins schwebt, ohne ein prinzipiell gedachtes fundamentum in re, auch wenn dieses nicht positiv bestimmbar ist. Ohne die Differenz zur extramentalen Sphäre zu denken, existiert diese „sachliche Notwendigkeit“ nur an der bewusstseinsimmanenten Konstruktion, der „empirischen Bewegung des Denkens“. „In diesem Sinne gilt es allgemein, daß das Bewußtsein seine Gegenstände selbst erzeugt und sich aus den Elementen des Wirklichen, die es als Inhalt in sich vorfindet, seine eigene Welt gestaltet.“ (Einleitung, S. 235)  Die erkenntnistheoretische Reflexion begründet angeblich wahre Erkenntnis oder das Bewusstsein begründet sich selbst. Die Erkenntnistheorie  wird zur Tautologie. Die Erkenntnistheorie, die bei Kant einmal gegen die Metaphysik entwickelt wurde, wird wieder zur Metaphysik. Das, was Windelband über Fichte und Hegel behauptet, gilt eher für den Neukantianismus selbst: „(...) wenn man die Wissenschaft von der absoluten Realität Metaphysik nennt, so geht die Erkenntnistheorie der Metaphysik weder vorher, noch folgt sie ihr, sie ist weder die Voraussetzung noch die Rechenprobe der Metaphysik, sondern sie ist die Metaphysik selbst.“ (Einleitung, S. 214)  Die Notwendigkeit des Denkens, seine Gegenstände für sich zu erzeugen, wird bei Windelband zum Erzeugen der Wirklichkeit der Gegenstände durch das Denken. „Wie man aber auch versuche, die Wissenschaften inhaltlich nach ihren Gegenständen einzuteilen – immer wird man darauf stoßen, daß diese Gegenstände nicht einfach als solche gegeben sind, sondern erst durch die wissenschaftliche Begriffstätigkeit selbst geformt werden.“ (Einleitung, S. 243)  Das erkenntnistheoretische Erste wird zum absoluten Ersten. 

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 Die im Gegensatz zu Kant geschlossene Immanenz des Denkens hat Folgen für die Wertphilosophie. Wenn es keine Differenz zwischen extramentaler Sphäre und immanenter Erkenntnis gibt, dann ist die Erkenntnis selbst die Wirklichkeit, Werte als Voraussetzung der Erkenntnis wie als ihr Produkt werden zu etwas „Wirklichem“ wie schon bei Lotze. „So gehört die Erzeugung dieser Gegenstände in der Erkenntnis selbst zu den wertvollen Gebilden der Realität, und wenn man die Bildung und Eigengestaltung dieser Gegenstände in dem menschlichen Erkenntnisprozeß mit dem Namen Erscheinung bezeichnen möchte (eine Erscheinung aber, die in diesem Falle nicht qualitativ, sondern quantitativ bestimmt ist, indem sie ja nicht etwas anderes bedeuten soll als das Wesen, sondern nur eine Auswahl daraus), so kann man dafür das Wort Lotzes in Anspruch nehmen, daß, wenn unser Erkenntnis nur Erscheinung enthalten soll, das Aufblühen dieser Erscheinung im Bewußtsein als eines der wertvollsten Geschehnisse anzusehen ist, die zwischen den Bestandteilen der Wirklichkeit überhaupt sich vollziehen können.“ (Einleitung, S. 236)  So wie mathematische Erkenntnisse, die „völlig unabhängig davon, ob es etwas ihrem Inhalt Entsprechendes in natura rerum gibt oder nicht“ (S. 237), wirklich seien, so auch die Werte. „Die Geltung der Wahrheit ist unabhängig von allem Verhalten irrensfähiger und in der Entwicklung begriffener Subjekte. Eine mathematische Wahrheit galt längst, ehe sie von irgend jemand gedacht wurde, und sie gilt, auch wenn ein Einzelner irrtümlich sich ihrer Anerkennung entziehen sollte.“ (Einleitung, S. 212 f.)

Werte werden selbst konstitutiv (verfassungsgebend) für die Erkenntnisse. „Die Kulturforschung oder die Geschichtswissenschaft, wie man bisher geläufiger zu sagen gewöhnt ist, bedeutet ein werthaftes Erkennen, während die Naturforschung nur den logischen Wert der Allgemeinheit im Auge hat und sich sonst als eine wertfreie Weltansicht bezeichnen zu dürfen glaubt. Aber das Werthafte in der Geschichtsforschung besteht nun nicht etwa in der Schwächlichkeit eines Moralisierens und Bewertens der Gegenstände, sondern vielmehr darin, daß hier die Gegenstände selbst wiederum erst in der Wissenschaft durch die Beziehung auf einen Wert zustande kommen.“ (Einleitung, S. 241) 

 In diesem Zusammenhang arbeitet Windelband der Trennung von Sache und Methode bei Rickert vor, indem er die Wissenschaften nach zwei Methoden ordnet. „So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren was immer ist, diese was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist – wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf – in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen idiographisch.“ (Windelband: Geschichte, S. 145)  Diese schematische Einteilung der Wissenschaften steht allerdings im Widerspruch zu seiner Einsicht, dass das Einzelne „ein Objekt müßiger Kuriosität“ bleibt (S. 153), wenn wir es nicht – willkürlich – als wertvoll bestimmen. Andererseits gehen auch die Naturwissenschaften wie die Biologie auf historisch Typisches, also Einmaliges, insofern sie die Evolution untersuchen. Obwohl also diese Zweiteilung der Methoden „in gewissem Betracht relativ ist“ (S. 146), muss Windelband auf der Trennung von Sache und Methode bestehen, weil das Bewusstsein mit einer gewissen Willkür, nämlich nach seinen Werten die bewusstseinsimmanente Wirklichkeit konstruiert.

 Wenn dem so ist, dann hängt die ganze Philosophie des Neukantianismus an der Frage, wie solche Werte, die als wirklich gedacht werden, zu begründen sind. Da sich die Erkenntnistheorie konsequent bewusstseinsimmanent gibt, ist anzunehmen, dass mehr als individuell-subjektive oder klassensubjektive Begründungen nicht herauskommen.

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4.   Zur Begründung der Werte

 Sowohl Windelband als auch Rickert gehen von der Unterscheidung zwischen Urteilen und beurteilen aus. Urteilen ist angeblich rein kontemplativ (wie sie von den Naturwissenschaften sagen), Beurteilen ist ein Werten, in dem neben rationalen auch voluntative und emotive Aspekte eine Rolle spielen. Urteilen gehört zur „Ontologie“ und Beurteilen zur „Axiologie“. Da aber auch Urteile bewertet werden müssen, z.B. ob sie wahr oder falsch sind, fällt Philosophie mit Axiologie zusammen, da für sie auch „Wahrheit“ ein Wert ist und da auch der Sinn an solchen Wertungen  gebunden ist. Grundlage der Philosophie überhaupt ist die Wertphilosophie. Da Werte transzendental begründet werden, was so viel heißt, dass sie Bedingungen der Möglichkeit von Wertungen sind, stellt die „Transzendentalphilosophie“ oder – mit Rickert gesprochen – die Kritik der reinen Vernunft, so wie er sie versteht, die Methodologie und „Wissenschaftslehre“ von Philosophie als Wissenschaft überhaupt dar (Rickert, Aufsätze. S. 352).

 Windesband unterscheidet zwischen theoretischen Urteilen über einen Sachverhalt, in dem das Verhältnis von Subjekt und Prädikat das zwischen zwei Inhalten ist, die sachlich vorgegeben sind, und den axiologischen Urteilen, in dem das Subjekt des Urteils sich auf einen Zweck oder Wert bezieht, der vom wertenden Subjekt (Selbst, Ich, Person usw.) als etwas Positives, Bejahenswertes, Lustvolles, Gutes angenommen wird. So ist das Angenehme und Schöne keine Eigenschaft der Dinge, auch inhäriert es nicht dem wertenden Objekt, sondern entsteht durch die Beziehung des Gegenstandes auf ein wertendes Bewusstsein, das ihn zum schönen oder angenehmen erklärt.

 Allgemeine Geltung erlangt solch ein wertendes oder axiologisches Urteil nur dann, wenn ihm ein „allgemeingültiger Wert“ zu Grunde liegt. Dies erfordert eine „neue Theorie“ der „Axiologie oder Wertlehre“ (Einleitung, S. 246).  Diese Axiologie begründet er in seiner „Einleitung in die Philosophie“.

 Der Wert als philosophischer Begriff ist für Windelband zunächst alles, „was ein Bedürfnis befriedigt“ (Willen) und „was Lustgefühle hervorruft“ (Gefühl) (Einleitung, S. 247). Daraus zu schließen, man könne solche Werte psychologisch oder utilitaristisch bzw. voluntaristisch bestimmen, ist aber falsch, jedenfalls dann, wenn man auf allgemeine Geltung solcher Werte besteht. Die allgemeine Geltung solcher Werte ist aber ein notwendiges Ziel der „Axiologie“, wenn Werte zur Grundlage von wissenschaftlichen Theorien werden sollen. Eine bloß subjektive Wertung, wie sie empirisch konstatierbar ist, ergibt bloß eine „bunte Verschiedenheit der Wertungen“ (Einleitung, S. 252), die keine allgemeine Geltung beanspruchen kann. 

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 „Die naive Selbstverständlichkeit, mit der wir zunächst unsere eigene Art, im Gefühl und im Willen zu werten, jedem anderen anmuten, wird durch unsere Erfahrung von früh an erschüttert. Wir merken sehr bald, daß, was uns angenehm ist, andern ebenso unangenehm sein kann (und umgekehrt); wir überzeugen uns auch, daß was uns nützt, anderen schädlich ist, und später erwächst uns, je weiter wir in das Leben blicken, die Einsicht, daß auch das, was wir gut oder schlecht, was wir schön oder häßlich nennen, durchaus nicht bei allen übrigen auf dieselbe Wertungsweise stößt.“ (Einleitung, S. 252) 

 Auch wenn unser Umfeld ähnliche Geschmacks- und Werturteile fällt, so geht das nächste Umfeld schon wieder über diese „Sitte“ hinweg. Das gleiche gilt für das Gewissen, das durch das Umfeld geprägt wird. (Nicht aber für das philosophisch reflektierte Gewissen!)  Die verinnerlichte Stimme der Gesellschaft, „die Sprache des Gesamtbewußtseins im Einzelbewußtsein“ „schafft zwar eine Norm der Unterwerfung“, ist aber immer eine partikulare. Auch ethnische, nationale oder kontinentale Wertungen sind demnach noch nicht allgemein gültig. Diese „Wertung des Wertens“ in Bezug auf seine allgemeine Gültigkeit müsse zu immer solideren allgemein gültigen Wertungen führen. „Hier entspringt somit das philosophische Problem als die Aufgabe, eine solche Wertung der Wertungen zu begreifen und zu begründen.“ (Einleitung, S. 253)  Geht man in dieser Wertung des Wertens weiter und unterwirft das individuelle und partikulare Werten „einer höheren und reflektierteren Art der Wertung“, dann kann es nicht mehr nur um das Angenehme und Unangenehme, das Nützliche und Schädliche gehen, denn diese Bereiche sind immer mehr oder weniger individuell, sondern nur um die Bereiche, „die wir durch die Wertprädikate gut oder schlecht und schön oder häßlich bezeichnet finden“. (Ebda.)

 Dabei kann es nicht um die Sitte gehen, die als bloß empirische mit den Sitten anderer Regionen kollidiert. Auch das Gewissen, das durch die Sitte gebildet ist, ergibt keine allgemeine Gültigkeit bei der Begründung von Werten im Gegensatz zu der Annahme seines Lehrers Lotze (vgl. Wertphilosophie I, S. 37). Das Gewissen ist nicht „letzte Instanz“, wie Lotze annahm, sondern bedarf selbst durch eine höhere Instanz seine Begründung und Rechtfertigung.

 Da Werten immer auf die Befriedigung eines Bedürfnisses oder ein Lustgefühl bezogen ist, kann der Wert „niemals dem Gegenstande für sich allein“ als Eigenschaft zukommen. (S. 254) Im Hinblick auf eine zur Zeit Windelbands noch gar nicht existierende objektbezogene Werttheorie, wie sie später Max Scheler mit seiner „materialen Wertethik“ vorlegen wird, sagt Windelband: „Zunächst bedeutet jeder Wert etwas, was ein Bedürfnis befriedigt oder ein Lustgefühl hervorruft. Daraus folgt, daß die Werthaftigkeit (natürlich negativ als Mißwert ebenso wie positiv als Wert) niemals dem Gegenstande für sich allein als Eigenschaft zukommt, sondern immer nur in der Beziehung auf ein wertendes Bewußtsein, das im Wollen seine Bedürfnisse befriedigt oder im Gefühl auf die Einwirkungen der Umwelt reagiert. Hebt man das Wollen und das Fühlen auf, so gibt es keine Werte mehr.“ (Einleitung, S. 254, Hervorhebung von mir)  Der hervorgehobene Satz macht auch den Unterschied zu seinem Schüler Rickert deutlich. Bei Windelband sind auch die objektivierten Werte noch im faktischen Bewusstsein der Menschen angesiedelt – im Gegensatz zu Rickert, der eine überindividuelle Sphäre konstruiert, so dass die Werte absolut werden, also auch unabhängig vom empirischen Menschen gedacht werden, ohne doch reale Objekte zu sein

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Stand: 24. Juli 2006